Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ ist aus sehr vielen Bildern und Bildfolgen montiert, zwischen denen der Monteur die Wahl hat – Bildern, die im übrigen von vornherein in der Folge der Aufnahmen bis zum endgültigen Gelingen beliebig zu verbessern gewesen waren. Um seine »Opinion publique«, die 3000 m lang ist, herzustellen, hat Chaplin 125 000 m drehen lassen. Der Film ist also das verbesserungsfähigste Kunstwerk, Und diese seine Verbesserungsfähigkeit hängt mit seinem radikalen Verzicht auf den Ewigkeitswert zusammen. Das geht aus der Gegenprobe hervor: für die Griechen, deren Kunst auf die Produktion von Ewigkeitswerten angewiesen war, stand an der Spitze der Künste die am allerwenigsten verbesserungsfähige Kunst, nämlich die Plastik, deren Schöpfungen buchstäblich aus einem Stück sind. Der Niedergang der Plastik im Zeitalter des montierbaren Kunstwerks ist unvermeidlich.

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      Der Streit, der im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zwischen der Malerei und der Photographie um den Kunstwert ihrer Produkte durchgefochten wurde, wirkt heute abwegig und verworren. Das spricht aber nicht gegen seine Bedeutung, könnte sie vielmehr eher unterstreichen. In der Tat war dieser Streit der Ausdruck einer weltgeschichtlichen Umwälzung, die als solche keinem der beiden Partner bewußt war. Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie. Die Funktionsveränderung der Kunst aber, die damit gegeben war, fiel aus dem Blickfeld des Jahrhunderts heraus. Und auch dem zwanzigsten, das die Entwicklung des Films erlebte, entging sie lange.

      Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Entscheidung der Frage gewandt, ob die Photographie eine Kunst sei – ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe – so übernahmen die Filmtheoretiker bald die entsprechende voreilige Fragestellung. Aber die Schwierigkeiten, welche die Photographie der überkommenen Ästhetik bereitet hatte, waren ein Kinderspiel gegen die, mit denen der Film sie erwartete. Daher die blinde Gewaltsamkeit, die die Anfänge der Filmtheorie kennzeichnet. So vergleicht Abel Gance z. B. den Film mit den Hieroglyphen: »Da sind wir denn, infolge einer höchst merkwürdigen Rückkehr ins Dagewesene, wieder auf der Ausdrucksebene der Ägypter angelangt … Die Bildersprache ist noch nicht zur Reife gediehen, weil unsere Augen ihr noch nicht gewachsen sind. Noch gibt es nicht genug Achtung, nicht genug Kult für das, was sich in ihr ausspricht.«827 Oder Séverin-Mars schreibt: »Welcher Kunst war ein Traum beschieden, der … poetischer und realer gleichzeitig gewesen wäre! Von solchem Standpunkt betrachtet würde der Film ein ganz unvergleichliches Ausdrucksmittel darstellen, und es dürften in seiner Atmosphäre sich nur Personen adligster Denkungsart in den vollendetsten und geheimnisvollsten Augenblicken ihrer Lebensbahn bewegen.«828 Es ist sehr lehrreich zu sehen, wie das Bestreben, den Film der »Kunst« zuzuschlagen, diese Theoretiker nötigt, mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen kultische Elemente in ihn hineinzuinterpretieren. Und doch waren zu der Zeit, da diese Spekulationen veröffentlicht wurden, schon Werke vorhanden wie »L’opinion publique« und »La ruée vers l’or«. Das hindert Abel Gance nicht, den Vergleich mit den Hieroglyphen heranzuziehen, und Séverin-Mars spricht vom Film wie man von Bildern des Fra Angelico sprechen könnte. Kennzeichnend ist, daß auch heute noch besonders reaktionäre Autoren die Bedeutung des Films in der gleichen Richtung suchen und wenn nicht geradezu im Sakralen so doch im Übernatürlichen. Anläßlich der Reinhardtschen Verfilmung des Sommernachtstraums stellt Werfel fest, daß es unzweifelhaft die sterile Kopie der Außenwelt mit ihren Straßen, Intérieurs, Bahnhöfen, Restaurants, Autos und Strandplätzen sei, die bisher dem Aufschwung des Films in das Reich der Kunst im Wege gestanden hätte. »Der Film hat seinen wahren Sinn, seine wirklichen Möglichkeiten noch nicht erfaßt … Sie bestehen in seinem einzigartigen Vermögen, mit natürlichen Mitteln und mit unvergleichlicher Überzeugungskraft das Feenhafte, Wunderbare, Übernatürliche zum Ausdruck zu bringen.«829

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      Es ist eine andere Art der Reproduktion, die die Photographie einem Gemälde, und eine andere, die sie einem im Filmatelier gestellten Vorgang zuteilwerden läßt. Im ersten Falle ist das Reproduzierte ein Kunstwerk, und seine Produktion ist es nicht. Denn die Leistung des Kameramanns am Objektiv schafft ebensowenig ein Kunstwerk, wie die eines Dirigenten an einem Symphonieorchester; sie schafft bestenfalls eine Kunstleistung. Anders bei der Aufnahme im Filmatelier. Hier ist schon das Reproduzierte kein Kunstwerk und die Reproduktion ihrerseits ist es ebensowenig wie in dem ersten Fall. Das Kunstwerk entsteht hier erst auf Grund der Montage. Einer Montage, von der jedes einzelne Bestandstück die Reproduktion eines Vorgangs ist, der ein Kunstwerk weder an sich ist, noch in der Photographie ein solches ergibt. Was sind diese im Film reproduzierten Vorgänge, da sie doch keine Kunstwerke sind?

      Die Antwort muß von der eigentümlichen Kunstleistung des Filmdarstellers ausgehen. Ihn unterscheidet vom Bühnenschauspieler, daß seine Kunstleistung in ihrer originalen Form, in der sie der Reproduktion zu Grunde liegt, nicht vor einem zufälligen Publikum, sondern vor einem Gremium von Fachleuten vor sich geht, die als Produktionsleiter, Regisseur, Kameramann, Tonmeister, Beleuchter u. s. w. jederzeit in die Lage geraten können, in seine Kunstleistung einzugreifen. Es handelt sich hier um eine gesellschaftlich sehr wichtige Kennmarke. Das Eingreifen eines sachverständigen Gremiums in eine Kunstleistung ist nämlich charakteristisch für die sportliche Leistung und im weiteren Sinn für die Testleistung überhaupt. Ein solches Eingreifen bestimmt in der Tat den Prozeß der Filmproduktion durchgehend. Viele Stellen werden bekanntlich in Varianten gedreht. Ein Hilfeschrei beispielsweise kann in verschiedenen Ausfertigungen registriert werden. Unter diesen nimmt der Cutter dann eine Wahl vor; er statuiert gleichsam den Rekord unter ihnen. Ein im Aufnahmeatelier dargestellter Vorgang unterscheidet sich also von dem entsprechenden wirklichen so, wie das Werfen eines Diskus auf einem Sportplatz in einem Wettbewerb unterschieden ist von dem Werfen der gleichen Scheibe am gleichen Ort auf die gleiche Strecke, wenn es geschähe, um einen Mann zu töten. Das erste wäre eine Testleistung, das zweite nicht.

      Nun ist allerdings die Testleistung des Filmdarstellers eine vollkommen einzigartige. Worin besteht sie? Sie besteht in der Überwindung einer gewissen Schranke, welche den gesellschaftlichen Wert von Testleistungen in enge Grenzen schließt. Es ist hier nicht von der sportlichen Leistung die Rede, sondern von der Leistung am mechanisierten Test. Der Sportsmann kennt gewissermaßen nur den natürlichen. Er mißt sich an Aufgaben, wie die Natur sie bietet, nicht an denen einer Apparatur – es sei denn in Ausnahmefällen, wie Nurmi, von dem man sagte, daß er gegen die Uhr lief. Inzwischen ruft der Arbeitsprozeß, besonders seit er durch das laufende Band normiert wurde, täglich unzählige Prüfungen am mechanisierten Test hervor. Diese Prüfungen erfolgen unter der Hand: wer sie nicht besteht, wird aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet. Sie erfolgen aber auch eingeständlich: in den Instituten für Berufseignungsprüfungen. In beiden Fällen stößt man auf die oben erwähnte Schranke.

      Diese Prüfungen sind nämlich, zum Unterschied von den sportlichen, nicht im wünschenswerten Maß ausstellbar. Und genau dies ist die Stelle, an der der Film eingreift. Der Film macht die Testleistung ausstellbar, indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht. Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum, sondern vor einer Apparatur. Der Aufnahmeleiter steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchsleiter steht. Im Licht der Jupiterlampen zu spielen und gleichzeitig den Bedingungen des Mikrophons zu genügen, ist eine Testleistung ersten Ranges. Sie darstellen heißt, im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit beibehalten. Das Interesse an dieser Leistung ist riesengroß. Denn eine Apparatur ist es, vor der die überwiegende Anzahl der Städtebewohner in Kontoren und in Fabriken während der Dauer des Arbeitstages ihrer Menschlichkeit sich entäußern muß. Abends füllen dieselben Massen die Kinos, um zu erleben, wie der Filmdarsteller für sie Revanche nimmt, indem seine Menschlichkeit (oder was ihnen so erscheint) nicht nur der Apparatur gegenüber sich behauptet, sondern sie dem eigenen Triumph dienstbar macht.

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