Die Schneekugel. Hugo Ramnek
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Название: Die Schneekugel

Автор: Hugo Ramnek

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783990471081

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СКАЧАТЬ kurzen Blick auf das Kreuzigungsbild auf der Seitenwand. Jesus trägt die Dornenkrone und Blut fließt die Schläfen herunter und Blut sprießt aus den angenagelten Handtellern, aus der rechten Schulter, unter dem langen Haar hervor, aus den zusammengenagelten Füßen; selbst in der Wange klafft eine Wunde. Zu den Füßen des Gekreuzigten stehen Maria und Maria Magdalena. Sie bluten heimlich, wie er weiß, seit die Großmutter einmal in hellster Aufregung in die Küche gekommen war und mit der Mutter getuschelt hatte. Er hörte nicht genau, was sie sprachen, aber er verstand das Wort Blut. Es klang sehr bedrohlich aus dem Munde seiner Großmutter, und als gleich darauf die Mutter ins Zimmer der Schwester ging, bekam er es mit der Angst zu tun. Er fragte die Großmutter, was mit seiner Schwester los sei. Sie gab ihm keine Antwort. Er fragte, sie sagte: Nichts. Er fragte noch einmal. Sie sagte, er solle nicht so blöd fragen, und machte dabei ein so alarmiertes Gesicht, dass seine Angst noch wuchs: Blutet sie? Da herrschte sie ihn an: Frage nicht! Um Gottes Willen, frage nicht! Er rannte zum Zimmer seiner Schwester, die Großmutter ihm nach, so gut sie konnte in ihrem Alter, im Zimmer war sie nicht, er hörte Stimmen aus dem Badezimmer, auch die seiner Schwester, Gott sei Dank, und die seiner Großmutter hinter ihm: Nicht hineingehen! Er blieb vor der Tür stehen und rief: Was ist los? Seine Mutter öffnete. Er sah seine Schwester blass beim Spiegelkasten stehen, als sie aufblickte, schaute er weg, sie kam ihm so anders vor als sonst, aber er hätte nicht sagen können, wie. Wenigstens lag sie nicht in ihrem Blute oder war mit Wundmalen übersät wie Jesus Christus. Seine Mutter schob ihn in sein Zimmer, vorbei an der Großmutter, die misstrauisch dreinschaute, und erklärte ihm alles. Trotzdem war ihm seine Schwester von da an unheimlich.

      Wo sind seine Gedanken? Schon beim Hereinkommen ist er ganz woanders. Er findet keine Andacht. Nie findet er hier Andacht. Er stellt sich neben, nein, etwas hinter die Zweierbank, die nahe bei der Sakristeitür hinter der Bogensäule steht, in einer Art Nische. Nie setzt er sich in die Bank, obwohl sie meistens frei ist. Er steht. Er steht am Rand. Er steht vor der Seitenwand des Spitzbogens zum Hauptschiff. Jeden Sonntag.

      Er steht im Seitenschiff. Er blickt auf den Volksaltar. Der Hauptaltar mit dem Tabernakel und dem unsichtbaren Allerheiligsten ist verdeckt. Das Predigtpult ist aber sichtbar. Ihm gegenüber, vor der Abschrankung des Hauptaltars, ist die Grafenbank, reichgeschnitzt, mit hoher Lehne. Meist ist sie leer. Er sieht auch noch die vordersten Bankreihen des Hauptschiffs. Einer kommt den Mittelgang herauf, mit noch mehr Verspätung als er, man hört seine Tritte durch den Kirchenraum hallen, es ist immer derselbe, mit forschem Schritt, kerzengerader Haltung, den Kopf erhoben, mit blitzenden Augen, nicht links, nicht rechts blickend, als würden die Kirchgänger um ihn herum nicht existieren – und gerade dadurch wird deutlich, dass sie für ihn existieren, ja, dass er für sie – gegen sie – seinen Auftritt zelebriert, die steife Haltung angenommen und die schwarze Tasche mitgenommen hat, die mit ihm, streng in seiner Hand schwingend, das Hauptschiff heraufkommt, bis vor die erste Bank, neben der er niederkniet, sich mit großer Geste bekreuzigt, sich wieder erhebt, auf dem Sitz hineinrutscht, die Tasche abstellt und aufrecht sitzen bleibt, den Blick pfeilgerade nach vorne gerichtet: Eigentlich würde ihm ja das gräfliche Gestühl zustehen.

      Ganz anders er. Er huscht herein und stellt sich an den Rand. Zu Franziskus in seiner Mönchskutte. Der steht an der Seite des Bogens auf einem Podestchen und blickt auf ihn nieder. Unerschütterlich fest steht der Heilige, während er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert, in gemessenem Tempo; er ist ja kein Zappelphilipp. Er ist ja in der Nähe des Allerheiligsten. Er soll stillhalten und in Andacht versinken. Die Feuchtigkeit kriecht aus dem Boden und aus den Wänden in ihn hinein. Er friert. Er wechselt das Bein. Satzfetzen aus der ersten Lesung dringen zu ihm. Er ist mit seinem Kopf woanders. Er kämpft gegen seine Gedanken. Umsonst. Der Pfarrer und die Ministranten wechseln nach vorne zum Volksaltar. Die Zweierbank wäre frei, doch er bleibt stehen.

      Er war selber Ministrant gewesen. Hat mit den Schellen geklingelt. Geld eingesammelt mit dem Klingelbeutel. Wasser und Wein in den Kelch des Pfarrers geschenkt. Nur wenig Wein, weil der Pfarrer zuckerkrank ist. Der sieht mit jedem Jahr bleicher aus, seine Gesichtshaut ist nicht mehr gelblich, sondern gelb. Anfangs war er gern Ministrant gewesen, selbst wenn er immer Angst gehabt hatte, etwas falsch zu machen, nicht an der rechten Stelle zu klingeln oder zu spät niederzuknien. Mit der Zeit wusste er alle Gänge während der Messe, wenn er sie auch nicht immer richtig machte, weil er mit den Gedanken woanders war. Der Messdienst begann ihn zu langweilen. Doch er wagte nicht, mit dem Ministrieren aufzuhören. Erst als er ins Gymnasium kam und mit dem Frühzug in die Landeshauptstadt fahren musste und also einen Grund hatte, traute er sich. Er ging von da an sonntags immer noch durch den Seiteneingang in die Kirche, doch ohne schon eine Viertelstunde vor Messbeginn hinter der Sakristeitür zu verschwinden in einem ungelüfteten Raum, der muffelig roch nach feucht-kalten Gewändern. Beim Überstreifen des Ministrantenhemds hatte er sich oft verheddert. Er schämte sich dafür, dass der Messner ihm helfen musste – wie dem Pfarrer.

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