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Welt zu nehmen, die schöne weite Welt, in die alle Märchen hinauswiesen und nach der ich schon damals ein brennendes Verlangen trug. An einem Sonntagvormittag, tief im Winter, brachen wir auf. Ich zog dem siebenjährigen Bruder noch zuvor sorglich die Pelzfäustlinge über, dann wanderten wir zusammen über das nahe Bahngeleise in die wundervoll schimmernde Schneelandschaft hinaus. Es war ein köstlicher Tag, die kalte Sonnenluft schnitt mir in die Backen, dass sie brannten, ich fühlte mich wohlgeborgen in dem hübschen braunen Kastormantel, und der Schnee knarrte so angenehm unter meinen Stiefelchen. Ein Stück von Hause nahm ich in der Person des Bruders mit, also war auch gegen das Heimweh vorgesorgt. Mochten sie nun daheim zusehen, wie sie es aushielten ohne uns zwei Verkannte. Wir ließen das Waldhörnle, wo wir sonst mit den Eltern eingekehrt waren, links liegen und schritten flott gegen Sebastiansweiler los, das die Grenze des uns bekannten Erdteils war. Sebastiansweiler, der Name hatte mir’s angetan, obschon oder weil ich sonst von dem Ort rein gar nichts wusste. So zog es mich ganz von selbst in dieser Richtung. Jenseits Sebastiansweiler begann dann erst die eigentliche weite Welt, das große Unerforschte. Wir waren schon am Bläsibad vorüber, da schrieb das Schicksal uns ein warnendes Menetekel an den Weg. Mitten im Schnee der Straße lag eine große schöne Elster vor meinen Füßen, die kraftlos die Flügel bewegte, erstarrt vor Kälte, wie mir schien. Ich hob sie auf und suchte sie unter dem Mantel zu erwärmen und ihr Lebenshauch einzublasen. Umsonst, sie wurde nur immer maudriger, also nahm ich an, dass sie verhungert sei. Die stumme Symbolik dieser Erscheinung ging mir zwar nicht auf, aber ich wusste, dass es nirgends auf der Welt Wärme und Atzung gab als am heimischen Herde, den wir verlassen hatten. Vergessen war mit einem Male alles, was uns kränkte, vergessen die Lockung der schönen weiten Welt jenseits Sebastiansweiler; wir dachten nur noch an die Rettung des gefiederten Schützlings. Vielleicht war aber uns beiden der Anlass, unser Abenteuer zu beenden, auch unbewusst willkommen, denn die Seele hat ihre Heimlichkeiten, von denen sie selbst nichts weiß. Wir machten in stummem Einverständnis Kehrt und liefen, was wir konnten, den weiten Weg zurück nach Hause. Es war noch immer Vormittag, als wir ankamen, und keine Seele hatte sich noch um unser Verschwinden Sorge gemacht. Aber sobald Edgar der unterdessen verendeten Elster ansichtig ward, die ich noch immer an die Brust gedrückt hielt in der Hoffnung, sie am Ofen wieder aufleben zu sehen, da nahm er mir den toten Vogel, um ihn ohne weiteres zu sezieren. Ich widersetzte mich, denn ich wollte die arme Elster, wenn sie nicht mehr zum Leben gebracht werden konnte, mit ihrem schillernden Gefieder ehrlich begraben. Sie wurde mir jedoch abgesprochen und dem Seziermesser überwiesen. Edgar war von klein auf gewöhnt, was in seine Hand kam, zu zerlegen und auf seine innere Beschaffenheit hin zu untersuchen, doch hatte sich dieser Hang bisher auf Erzeugnisse der Mechanik beschränkt, neuerdings regte sich aber der künftige Anatom in ihm, und er begann nun auch zu meinem unaussprechlichen Widerwillen tote Tiere zu zerschneiden. Die gute Fina beeilte sich mit einer Ergebenheit, die ich verwerflich fand, ihrem jungen Herrn und Gebieter ein ausgedientes Hackbrett und ein ebensolches Vorlegmesser zu bringen, und ich sah mit Entsetzen, wie das schöne Tier zersäbelt wurde und wie das Blut über die feinen harten Knabenfinger lief. Er holte Herz und Lunge und Leber heraus und betrachtete sie aufmerksam, während ich mich vor Abscheu weinend im hintersten Winkel der gemeinsamen Stube verkroch. Ich konnte gar nicht glauben, dass diese blutigen Hände noch die meines Bruders seien, in denen die meinigen sonst so traulich gelegen hatten. Aber ich wollte nicht mehr fort, die Wärme des Elternhauses umfing mich nach der Eisesluft, in der heimatlose Vögel starben, mit unsäglichem Wohlbehagen, und ich fühlte mich wieder in die leidenschaftliche Liebeskraft eingeschlossen, mit der meine Mutter alle ihre Küchlein umhegte. Allmählich dämmerte mir auch auf, welchen Schrecken ich den zärtlichsten Eltern hatte bereiten wollen und wie gut es mein Schutzgeist mit mir meinte, als er mich durch die sterbende Elster so sänftlich zur Umkehr mahnte. Das nur drei Stunden entfernte Sebastiansweiler aber habe ich während meines ganzen Tübinger Aufenthalts niemals mit Augen gesehen, daher es noch heute im Lichte der schönsten Romantik ohne jeden Zug ernüchternder Wirklichkeit vor meiner Seele steht.
Von Ihr. Nachklänge des tollen Jahres. Das rote Album.
Bevor ich weitergehe, muss ich hier einige Worte über die ureigene Persönlichkeit meiner Mutter vorausschicken, weil ohne einen Blick auf ihr Gesamtbild die einzelnen Züge ihres Wesens, wie sie bruchstückartig aus diesen Blättern hervortreten, nimmermehr richtig verstanden werden könnten. Sie wiederzugeben ganz so, wie sie war, ist ein Wagnis. Kein Bild ist leichter zu verzeichnen als das ihre. So ausgeprägt sind ihre Züge, so urpersönlich – ein einziger zu stark gezogener Strich, eine vergröbernde Linie, und das Edelste und Seltenste, was es gab, kann zum Zerrbild werden. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeichnet, muss ganz leicht und sicher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es auffassen soll. Wer gewohnt ist, in Schablonen zu denken, findet für das nur einmal Vorhandene keinen Platz in seiner Vorstellung. Es gab Philisterseelen, die in diesem unbegreiflichen Wesen nichts sahen, als ein wunderliches kleines Frauchen, das wenig auf seinen Anzug hielt und keine gute Hausfrau war. Für mich und alle, die sie wahrhaft kannten, ist sie immer das außerordentlichste menschliche Ereignis gewesen.
Wir waren so fest verwachsen, dass mein Gedächtnis ihre eigene Kindheit mit umschließt, als ob ich sie selbst erlebt hätte. Ich sehe sie, wie sie als Oberstentöchterchen in Ludwigsburg aus ihrem großen Garten, der an das Militärgefängnis stieß, das schönste Obst ihrer Bäume durch die vergatterten Fenster heimlich den Sträflingen zuwarf, voll frühzeitiger Empörung, dass es Menschen gab, die man der Freiheit beraubte. Wie die Gefangenen erfinderisch lange Schnüre herabließen, woran die Kleine ganze Würste, Kuchenstücke und was sie Gutes in Küche und Keller finden konnte, festband und so die erste rebellische Freude genoss, Gedrückten beizustehen. Ein andermal schwebt sie mir vor, wie sie ihre Ferientage bei dem Tantele zubringen durfte, der einzigen bürgerlichen Verwandten, die sie besaß und in deren Hause ihr am wohlsten war, weil es da ganz einfach zuging und sie tun und lassen durfte, was sie wollte. Ihr erstes war dann, alle Hüllen von sich zu werfen und ihr Sommerkleidchen auf den bloßen Leib anzuziehen, was ja viel kühler war, denn sie sah nicht ein, warum der Mensch so viele Umstände mit seinen Kleidern macht. In seligem Mutwillen zog sie die langen, ungeknüpften Kreuzbänder ihrer
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