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haben mochten. Er versuchte, sich an ihre Stelle zu versetzen, wenn sie ihm in die Augen starrte, konnte aber den Gedanken nicht weiter fortführen. Wohl vermochte er es, sich in die Gedanken anderer zu versetzen, aber es mußten Männer sein, deren Lebensbedingungen er wohl kannte. Ihre Lebensbedingungen kannte er nicht. Sie war ein Wunder, ein Rätsel, und wie konnte er auch nur einen einzigen ihrer Gedanken erraten? Nun ja, es waren ehrliche Augen, so schloß er, und es war nichts Kleines oder Gemeines in ihnen. Seine braune, sonnenverbrannte Gesichtsfarbe überraschte ihn, denn er hatte nicht geahnt, daß er so dunkel war. Er schlug den Hemdärmel zurück und verglich den weißen Arm mit diesem Gesicht. Ja, ein Weißer war er doch! Aber die Arme waren auch verbrannt. Er drehte den Arm, strich sich mit der andern Hand über die Muskeln und betrachtete die Unterseite, die von der Sonne am wenigsten verbrannt war. Sie war sehr weiß, und er lachte sein Gesicht im Spiegel an bei dem Gedanken, daß es einmal ebenso weiß wie die Unterseite seines Armes gewesen war; aber er ließ sich nicht träumen, daß es nur wenige blasse, elfenhafte Frauen gab, die eine hellere, glattere Haut als die seine hatten – heller als seine dort, wo die Sonne sie nicht verheeren konnte. Sein Mund wäre der eines Cherubs gewesen, hätten die vollen sinnlichen Lippen sich nicht in erregten Augenblicken hart über den Zähnen geschlossen. Zuweilen schlossen sie sich so hart, daß der Mund barsch und streng, ja fast asketisch wurde. Es waren die Lippen eines Mannes, der zu kämpfen und lieben verstand. Sie konnten die Süße des Lebens schmecken und sich über sie freuen, und sie konnten die Süße beiseiteschieben und das Leben beherrschen. Das Kinn und die kräftigen Kinnbacken, die eine gewisse derbe Beharrlichkeit andeuteten, halfen den Lippen, das Leben zu beherrschen. Kraft hielt die Sinnlichkeit im Gleichgewicht und hatte eine erfrischende Wirkung auf sie, denn sie zwang ihn, nur Schönheit zu lieben, die natürlich war, und nur auf Sinneseindrücke zu reagieren, die gesund waren. Und zwischen diesen Lippen lagen zwei Reihen Zähne, die nie einen Zahnarzt gekannt oder gebraucht hatten. Sie waren weiß, stark und regelmäßig, wie er sich bei ihrer Betrachtung selbst sagte. Aber während er sie betrachtete, begann er unruhig zu werden. Irgendwo in einem geheimen Winkel seines Gehirns lebte als dunkle Erinnerung der Eindruck, daß es Leute gäbe, die sich täglich die Zähne bürsteten; das waren die Leute hoch oben auf der Stufenleiter, die Leute, die ihrer Klasse angehörten. Sie bürstete sich sicher täglich die Zähne. Was würde sie sagen, wenn sie erfuhr, daß er sich noch nie im Leben die Zähne gebürstet hatte? Er beschloß, sich eine Zahnbürste anzuschaffen und sich an ihre Benutzung zu gewöhnen. Gleich morgen wollte er damit beginnen. Nicht allein durch große Taten konnte er sie zu gewinnen hoffen. Er mußte seinen ganzen Lebenswandel verändern, er mußte sich die Zähne bürsten und sich daran gewöhnen, mit gestärkter Wäsche zu gehen, obwohl ein steifer Kragen ihm wie eine Beschränkung seiner Freiheit vorkam. Er hob die Hand hoch, rieb sich mit der Innenseite des Daumens die harte Haut der Handfläche und sah den Schmutz, der gleichsam in der Haut eingekapselt war, und den keine Bürste entfernen konnte. Wie anders war doch ihre Hand! Bei der Erinnerung an sie durchschauerte es ihn angenehm. Wie ein Rosenblatt, sagte er bei sich, kühl und weich wie eine Schneeflocke. Nie hatte er gedacht, daß eine Frauenhand so herrlich weich sein könnte. Er ertappte sich auch bei dem Gedanken, wie wunderbar es sein mußte, von einer solchen Hand geliebkost zu werden, und eine schuldbewußte Röte färbte seine Wangen. Dieser Gedanke war zu irdisch, wenn er ihr galt. Irgendwie schien er an ihrer überirdischen Erhabenheit zu rütteln. Sie war eine blasse, feine Elfe, hoch erhaben über die Gier des Fleisches; aber dennoch konnte er sich nicht von dem Gedanken an ihre weiche Hand freimachen. Er hatte bisher nur die harten Hände von Fabrikarbeiterinnen und andern Frauen seiner Klasse gekannt. Nun ja, er wußte ja gut, warum deren Hände hart waren, aber ihre Hand ... sie war weich, weil sie nie damit gearbeitet hatte. Der klaffende Schlund zwischen ihnen wurde größer als je bei dem Gedanken, daß es einen Menschen gäbe, der nie für sein Brot hatte arbeiten müssen. Er sah plötzlich, wie vornehm die Menschen waren, die nie arbeiteten. Ihre Vornehmheit stand plötzlich vor ihm wie eine stolze Bronzestatue, übermütig und mächtig. Er selbst hatte gearbeitet; seine ersten Erinnerungen schienen mit Arbeit verknüpft zu sein. Und seine ganze Familie hatte gearbeitet. Gertrude zum Beispiel! Waren ihre Hände nicht hart von der endlosen Hausarbeit, so waren sie geschwollen und rot wie gekochtes Ochsenfleisch von der Wäsche. Und seine Schwester Marian. Sie hatte letzten Sommer in der Konservenfabrik gearbeitet, und ihre hübschen, schmalen Hände waren von Narben von den Tomatenmessern verunziert. Dazu hatten zwei Finger das letzte Glied durch eine Schneidemaschine in der Tütenfabrik verloren, wo sie den Winter zuvor gearbeitet hatte. Er gedachte der harten Hände seiner Mutter, als sie in ihrem Sarge lag. Und sein Vater hatte bis zu seinem letzten Hauch gearbeitet, und als er starb, war die dicke Hornhaut an seinen Händen wohl einen halben Zoll stark gewesen. Ihre Hände waren weich, ebenso wie die Hände ihrer Mutter und ihrer Brüder. Letzteres kam wie eine Überraschung; es war ihm ein schlagender Beweis dafür, wie hoch sie standen und welch ein ungeheurer Abgrund zwischen ihm und ihr lag.
Mit einem bitteren Lachen ließ er sich auf das Bett fallen und zog sich die Schuhe aus. Er war ein Narr. Er hatte sich von dem Gesicht und den weichen Händen eines Weibes berauschen lassen. Und plötzlich sah er ein neues Bild auf der schmutzigen geweißten Wand. Er sah sich selbst vor einer finsteren Arbeiterkaserne stehen. Es war eine Nacht im Osten Londons, und vor ihm stand Margey, eine kleine Fabrikarbeiterin von fünfzehn Jahren. Er hatte sie nach dem »Bohnenfest« heimbegleitet. Sie wohnte in der finsteren Kaserne, die schlechter war als ein Schweinekoben. Er reichte ihr die Hand zum Abschied, und sie hob ihm das Gesicht entgegen, damit er sie küßte. Aber er wollte sie nicht küssen. Er fürchtete sich irgendwie vor ihr. Da aber schloß sich ihre Hand mit fieberhaftem Druck über der seinen. Er fühlte, wie die harte Haut ihrer Hand gegen die seine scheuerte, und eine Woge innigen Mitleids wallte in ihm auf. Er sah den sehnsüchtigen, hungrigen Ausdruck in ihren Augen, und eine zurückgedrängte wilde Lebensgier verwandelte plötzlich die kleine, unterernährte Gestalt aus einem Kinde in ein erwachsenes Weib. Da schlang er mit unendlicher Nachsicht die Arme um sie, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie auf den Mund. Er konnte noch den kleinen Freudenschrei hören, den sie ausstieß, und er fühlte, wie sie sich wie eine Katze an ihn klammerte. Arme Kleine! Er starrte auf das Bild dessen, was vor langer, langer Zeit geschehen war. Das Blut rollte schneller durch seine Adern, wie es in jener Nacht getan, als sie sich an ihn klammerte und sein Herz vor Mitleid schwoll. Die Umgebung war grau gewesen, schmutzig grau, und ein feiner Staubregen hatte den grauen Bürgersteig noch grauer und schmutziger gemacht. Plötzlich aber erstrahlte die Wand, das Bild verschwand, und statt seiner leuchtete IHR blasses Antlitz mit seiner goldenen Haarkrone, fern und unerreichbar wie ein Stern.
Er nahm den Browning und den Swinburne vom Stuhl und küßte die Bücher. Sie hat mich angespornt, dachte er. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel und sagte dann laut, mit tiefem Ernst:
»Martin Eden, gleich morgen früh gehst du in die Volksbibliothek und liest darüber nach, wie man sich zu benehmen hat. Verstanden?«
Er drehte das Gas aus, und die Federn krächzten unter seinem Körper.
»Aber du darfst nicht mehr fluchen, Martin. Hörst du, Alter, du darfst nicht mehr fluchen«, sagte er laut.
Dann schlief er ein und hatte Träume, die sich an Kühnheit nur mit den Träumen eines Opiumrauchers messen konnten.
Am nächsten Morgen erwachte er aus seinen rosigen Träumen in einer Atmosphäre von Dampf, Seifengeruch und schmutziger Wäsche, einer Atmosphäre, die unter den schreienden Disharmonien eines zerquälten Lebens zitterte. Als er sein Zimmer verließ, hörte er ein Plätschern von Wasser und ein gereiztes, von einem Schlage gefolgtes Schelten: seine Schwester ließ ihren Zorn an einem ihrer vielen Kinder aus. Das Schreien des Kindes durchbohrte ihn wie ein Messer. Er war sich bewußt, daß das alles, ja selbst die Luft, die er einatmete, unendlich niedrig und widerwärtig war. Wie anders, dachte er, ist doch die Atmosphäre von Schönheit und Ruhe in dem Heim, in dem Ruth wohnt. Dort ist alles Geist, hier Materie, elende
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