Название: Absprachen im Strafprozess
Автор: Dirk Sauer
Издательство: Bookwire
Серия: Praxis der Strafverteidigung
isbn: 9783811448155
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Neben der praktischen Perspektive zugleich auch immer diejenige des Rechts einzunehmen, ist für die im weiteren Text gegebenen, auf die Praxis konzentrierten Hinweise aber auch deswegen unumgänglich, weil, wie noch im dritten Teil deutlich werden wird, auch die rechtmäßige Durchführung einvernehmlicher Verfahren und vor allem Verfahrensbeendigungen ein schwieriges und für die Mandanten oft riskantes Geschäft ist.
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Der Verteidiger sollte niemals vergessen, dass er bei einem Vorgehen im „traditionellen“ Stil, also schlicht der Nutzung der von der StPO zur Verfügung gestellten Verteidigungsmöglichkeiten und der Wahrnehmung der entsprechenden Rechte, beispielsweise derjenigen auf Akteneinsicht oder Stellung von Beweisanträgen, sowie bei sorgfältiger Aktenlektüre und gründlicher und umfassender Prüfung der Rechtslage sehr vieles für seine Mandanten erreichen kann. Ob die einvernehmlich erzielbaren Ergebnisse tatsächlich besser aussehen, ist vielfach nicht ausgemacht. Das erste Interesse an dem Zustandekommen strafprozessualer Verständigungen haben stets Gerichte und Staatsanwaltschaften, bei deren – angeblich – stets chronischer Arbeitsüberlastung die Hilfe der Verteidigung zur Verfahrensverkürzung und -vereinfachung natürlich hoch willkommen ist. Diese Gesichtspunkte spielen zwar auch für die Mandanten eine Rolle. Die Vermeidung der mit dem Verfahren verbundenen wirtschaftlichen und auch psychischen Belastungen kann und soll aber niemals um jeden Preis geschehen.[57] Überaus häufig ist aber, dass ein ganz formaler und, wenn man so will, „konservativer“ Verteidigungsansatz unter Inkaufnahme von Verzögerungen und Konflikten letztlich für den Betroffenen den besseren Weg darstellt.
3. Kein durchgängiger Widerspruch zwischen Konflikt und Konsens
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Die beiden Ansätze schließen sich dabei im Übrigen nicht aus. Es ist sehr gut vorstellbar und in der Praxis auch häufig unproblematisch, im Grundsatz den „Strafprozess von 1877“[58] durchzuführen, dabei aber zu Einzelpunkten, oft schon während des Ermittlungsverfahrens, insbesondere mit der Staatsanwaltschaft Gespräche zu führen und einvernehmliche Ergebnisse herbeizuführen.[59] Es kommt auch keineswegs selten vor, dass nach jahrelangen, mit allen von der StPO vorgesehenen Mitteln der Konfrontation geführten Auseinandersetzungen am Ende eines Ermittlungsverfahrens oder einer Hauptverhandlung doch noch eine Verständigung steht. Mit anderen Worten: Auch aus der hier grundsätzlich für richtig gehaltenen Auffassung, wonach Verständigungen im deutschen Strafverfahren einen legalen und legitimen Platz einnehmen können, folgt nicht, dass sich nun kurzschlüssig einfach eine lange Liste mit möglichen Verfahrenssituationen und dem jeweils dazugehörigen Tipp, wie sich diese im Gespräch mit den anderen Verfahrensbeteiligten optimal lösen lassen, erstellen ließe. Vielmehr muss gerade derjenige Verteidiger, der verständigungsfähig sein will, das hergebrachte Arsenal strafprozessualer Instrumentarien besonders gut beherrschen. Er muss selbstverständlich auch – aufgrund seiner Gestaltungsaufgabe vielleicht sogar in besonderem Maße – in der Lage sein, umfangreiches Aktenmaterial adäquat und in vertretbarer Zeit zu erfassen sowie die teils durchaus anspruchsvollen materiell-rechtlichen Prüfungen durchzuführen, von denen die zutreffende Einschätzung der Rechtslage abhängt. Erst auf einer solchen, soliden Basis kann überhaupt, je nach Verfahrenssituation, entschieden werden, ob, inwieweit, zu welchen Zeitpunkten und in welcher Form mit anderen Verfahrensbeteiligten Möglichkeiten einvernehmlicher Verfahrensweisen erörtert werden sollen.
Anmerkungen
Exemplarisch Fezer NStZ 2010, 177, 183, nach dem ein Verständigungsgesetz nicht in das „strafprozessuale Grundsystem“ passe; ähnlich Meyer-Goßner/Schmitt StPO, § 257c Rn. 3; Murmann ZIS 2009, 526, 532 f.: „Verständigung auf der einen und Aufklärungspflicht auf der anderen Seite“ seien „schlechterdings nicht kompatibel“.
BVerfG Urt. v. 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10 = NJW 2013, 1058 ff.
Exemplarisch Stuckenberg ZIS 2013, 212, der hofft, dass der Gesetzgeber bzw. das BVerfG dem „unwürdigen Treiben“ in oder neben deutschen Gerichtssälen bald ein Ende machen wird und damit ein Totalverbot von Absprachen meint. Ähnlich kritisch Knauer NStZ 2013, 433.
Vgl. dazu ausführlich Sauer Konsensuale Verfahrensweisen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2008, S. 12 ff., 20 ff.
BGH Urt. v. 28.8.1997 – 4 StR 240/97 = BGHSt 43, 195.
Vgl. zum Streit ausführlich Sauer Konsensuale Verfahrensweisen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Aufl. 2008, Rn. 69 ff., 80 ff.
Dreier FS Wieacker, S. 22. Dreier fügt im Bezug auf die im Text zitierte Passage zur Rechtsdogmatik an, es sei „vor allem diese dritte Dimension, die ihren Bezug zur praktischen Vernunft begründet“ (vgl. Dreier aaO).
Eine solche kann es ja geben, vgl. etwa Luhmann Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19.
Bereits vor Inkrafttreten des VerstG befürchtete Schünemann ZRP 2009, 104 im Gesetzgebungsprozess die „Zerstörung der rechtsstaatlich-liberalen Struktur des deutschen Strafverfahrens“, Deutschland würde „international in die Provinzialität zurückgeworfen“. Nach Inkrafttreten wurde das VerstG als „Mogelpackung“, dem „Geburtsfehler“ anhaften, gegeißelt (Knauer/Lickleder NStZ 2012, 366). Das VerstG – so die Kritik weiter – leide an „mehreren grundsätzlichen Mängeln“, es sei „in seiner Ausrichtung ganz und gar autoritär, in sich widersprüchlich und unwahrhaftig und unter völliger Verengung der Blickrichtung zustande gekommen“ (Fezer NStZ 2010, 277, 183). Nach Murmann ZIS 2009, 526, 534 sei ein Gesetz, das den Einklang von Verständigung einerseits und Aufklärungs- und Schuldprinzip andererseits behaupte, „schlicht eine die Wirklichkeit verfehlende Heuchelei“, eine „konsistente Interpretation des Gesetzes“ könne „nicht ernsthaft erwartet werden“, zustimmend Altenhain/Haimerl JZ 2010, 327, 329 Fn. 31. Die Kritik hält auch nach dem Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 an, exemplarisch Stuckenberg ZIS 2013, 212, 215, nach dem das „Handlungsmuster“ des § 257c nach wie vor nur funktionieren könne, wenn man sich über das Gesetz hinwegsetze. Ähnlich Knauer NStZ 2013, 433.
In diesem Sinn etwa Fezer NStZ 2010, 177, 179, der befremdlicher Weise im Bezug auf das, was der Strafprozess hervorbringen soll, von „absoluter Wahrheit“ spricht. Eine ähnliche Position СКАЧАТЬ