Das Erbe der Macht - Band 32: Sigilschwingen. Andreas Suchanek
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      »Warum schaust du mich so an?«, fragte er und wirkte prompt noch jünger.

      »Ich denke darüber nach, wie du reagierst, sobald du Computer und Smartphones kennenlernst«, sagte Jen.

      »Ach«, Tyler winkte ab, »Joshua hat mich doch einmal aus dem Bernstein geholt, damit ich ihm bei einem Diebstahl helfe. Du weißt schon.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung Arbeitszimmer. »Da habe ich mir so einen Computer angeschaut. Man sitzt die ganze Zeit vor diesem schwarzen Glasding …«

      »… Monitor.«

      »… und gibt irgendwelche Wörter ein. Und einmal habe ich gesehen, wie sie eine Karte mit Löchern benutzt haben, um ein Buch von einem mechanischen Arm aus einer Bibliothek herauffahren zu lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Mit einem Zauber geht das viel effektiver.«

      Jen grinste innerlich. »Ich gehe jede Wette ein, dass du mit dem ersten App-Spiel nicht mehr vom Smartphone aufsehen wirst.«

      »Wie du meinst.« Er glaubte ihr offensichtlich kein Wort, linste aber ständig hinüber zum Kaffeevollautomaten.

      »Der erste gehört mir«, stellte Jen klar.

      »Du warst gestern wieder so lange wach, oder?«

      »Nicht zu lange.«

      »Aber nur, weil Alex dich geschnappt hat und ihr dann … äh … ins Schlafzimmer verschwunden seid.« Seine Wangen nahmen einen zarten Rotton an.

      Jen beschloss, darauf nicht näher einzugehen. »Wir müssen den Übergang finden.«

      »Ihr habt euch also entschieden.«

      Jen nickte nach einem kurzen Zögern. »Zuerst das Portal. Unsere Seite muss wissen, was auf dem Spiel steht. Weißt du, hier spielt Merlin keine Rolle. Drüben sieht das anders aus. Der Widerstand ist komplett darauf fokussiert zu überleben, ihn zu stürzen. Die wissen gar nicht, dass eine Katastrophe bevorsteht.«

      Tyler schob die Hände in seine Jeanstaschen und knabberte auf seiner Unterlippe. »Das verstehe ich doch. Aber Onkel Kevin hat das alles nicht aus böser Absicht getan. Wir müssen ihm helfen.«

      »Ty.« Jen suchte seinen Blick. »Falls unsere Zeitlinie ausgelöscht wird, leben wir für immer in diesem Höllenloch. Und haben mit dem Anbeginn ein noch größeres Problem.« Sie deutete auf das Arbeitszimmer. »Ich habe die Unterlagen von Joshua studiert. Natürlich nicht alle. Er hat Geschichtswälzer zusammengetragen, Mentigloben wurden hier ja scheinbar verboten. Alles ziemlich restriktiv. Aber so weit ich das gesehen habe, ist der Anbeginn hier noch stärker als bei uns. Irgendwie findet er immer ein Schlupfloch.«

      Jen nahm die Kaffeetasse, goss ein wenig Milch hinein und streute Zimt darüber.

      »Das weiß ich«, sagte Ty. »Aber Onkel Kevin wollte meinen Vater zurückholen. Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Wer weiß, was die ihm antun.«

      »Wir werden ihn aufspüren«, versprach Jen. »Artus befindet sich in der Gewalt von Chris, das wissen wir durch Annora, dein Onkel vermutlich ebenfalls – und das ist immerhin sein Bruder, irgendwie. Joshua hat ein paar Zauber hinterlegt, außerdem Namen von Informanten. Einige stammen noch aus den 1980ern, aber wir können sie prüfen. Es gibt sogar Inkognito-Magie.«

      Hinter der Schlafzimmertür rumorte es. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Ein verschlafener Alex stand ihm Türrahmen und sah aus, als habe man ihn vor eine Flugzeugturbine gestellt.

      »Guten Morgen«, sagte er. »Ihr seid ganz schön laut.«

      »Es war doch garantiert der Kaffeegeruch, der dich geweckt hat, gib es zu.« Jen drehte sich so, dass er nicht an ihre Tasse herankam.

      Ty schob schnell die eigene unter den Auslauf. »Ich war zuerst.«

      Während die Jungs sich um den Kaffee stritten, ging Jen langsam ins Arbeitszimmer.

      In einem riesigen Stapel aus handschriftlichen Notizen, Büchern und kryptischen Zeichnungen lag die Wahrheit verborgen.

      »Nur wo?«

      Jen trank einen Schluck und ging an die Arbeit.

Kapiteltitel-Grafik

      Alex zupfte an seinem Kragen, und Jen stand kurz davor, ihm auf die Finger zu hauen. »Hörst du jetzt auf.«

      Er zog eine Grimasse. »Ich bin eben kein Fan von diesen Dingern. Wie Halskrausen.«

      »Es ist ein Seil mit Steinchen daran, sonst nichts.«

      »Ein schweres Steinchen«, sagte Alex leise.

      »Fingernagelgroß«, gab sie trocken zurück.

      Joshua hatte ihnen Inkognito-Zauber verschafft, die auf alter Magie der Inkas beruhten. Ein Seil, in das Knoten eingeflochten waren, in denen wiederum Kiesel hingen. Auf jedem davon waren Symbole eingeritzt. Jen hatte nicht herausfinden können, wie das Ganze funktionierte, so völlig ohne Bernstein. Es schien ein Passivzauber zu sein, der aktiv wurde, sobald ein anderer Mensch sie anblickte. Letztlich wurde ihr Aussehen nicht verändert, die betroffene Person dachte nur, dass Alex und Jen niemandem ähnelten, den sie kannten.

      Jen vollendete den Sprungkreis, in dessen Zentrum sie standen, und sagte: »Corpus Aportate, Corpus Disparere.«

      Die Umgebung des Gebäudes verschwand, wurde überlagert von einem heruntergekommenen Hinterhof.

      Überfüllte Mülltonnen standen in der Ecke, das Gras wucherte. Unkraut war dabei, die verholzten Rosen zu ersticken. Rissige Trittplatten schlängelten sich durch den Garten bis zum Tor.

      »Los!«, sagte Jen.

      Sie eilten hinaus, bevor die Bewohner sie entdecken konnten. Nicht, dass das ein Problem dargestellt hätte. Jen trug den Sigilring, den sie bei einem Kampf gegen einen Magier erbeutet hatten. Mit diesem war es möglich, lautlos und unsichtbar Zauber zu wirken. Wenn ein Nimag diesen sah, zog er den Kopf zwischen die Schultern und eilte davon.

      Hinter ihnen verblasste der Sprungkreis und löschte jeden Hinweis auf ihre Anwesenheit aus.

      »Wenigstens benutzen die hier nur die Portale«, sagte Alex. »Damit haben wir einen Vorteil. Keiner kann uns aufspüren oder Schutzzauber wirken.«

      Jen nickte, zählte im Stillen aber all die negativen Dinge auf, die in dieser Zeitlinie gegen sie arbeiteten. Geflügelte Beobachter, unsichtbare Magie, gefangene Sigile. »Schade, dass Joshua das Portal auf unserer Seite nicht längst gefunden hat.«

      »Immerhin hat er noch eine Menge mehr erleben können, bevor er wieder gestorben ist.« Alex versuchte sich in einem Lächeln, das jedoch verunglückte. »Und Tyler wollte nicht mit?«

      »Ach, er hat doch nur darauf gewartet, dass wir losziehen, damit er selbst nach Kevin suchen kann«, erwiderte Jen.

      Sie kamen auf eine belebte Straße und ließen sich von der Menge treiben. Jen hatte sich den Stadtplan genau eingeprägt und wusste, in welche Richtung sie sich wenden mussten.

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