Die Welt von Gestern. Stefan Zweig
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Название: Die Welt von Gestern

Автор: Stefan Zweig

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783750242388

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СКАЧАТЬ in der Musik neue Rhythmen und Tonfarben durch Mussorgskij, Debussy, Strauss und Schönberg; in die Literatur brach mit Zola und Strindberg und Hauptmann der Realismus, mit Dostojewskij die slawische Dämonie, mit Verlaine, Rimbaud, Mallarmé eine bisher unbekannte Sublimierung und Raffinierung lyrischer Wortkunst. Nietzsche revolutionierte die Philosophie; eine kühnere, freiere Architektur proklamierte, statt der klassizistischen Überladenheit, den ornamentlosen Zweckbau. Plötzlich war die alte, behagliche Ordnung gestört, ihre bisher als unfehlbar geltenden Normen des ›ästhetisch Schönen‹ (Hanslick) in Frage gestellt, und während die offiziellen Kritiker unserer ›soliden‹ bürgerlichen Zeitungen über die oft verwegenen Experimente sich entsetzten und mit den Bannworten ›dekadent‹ oder ›anarchisch‹ die unaufhaltsame Strömung zu dämmen suchten, warfen wir jungen Menschen uns begeistert in die Brandung, wo sie am wildesten schäumte. Wir hatten das Gefühl, daß eine Zeit für uns, unsere Zeit begann, in der endlich Jugend zu ihrem Recht kam. So erhielt mit einemmal unsere unruhig suchende und spürende Leidenschaft einen Sinn: wir konnten, wir jungen Menschen auf der Schulbank, mitkämpfen in diesen wilden und oft rabiaten Schlachten um die neue Kunst. Wo ein Experiment versucht wurde, etwa eine Wedekind-Aufführung, eine Vorlesung neuer Lyrik, waren wir unfehlbar zur Stelle mit aller Kraft nicht nur unserer Seele, sondern auch noch unserer Hände; ich war Zeuge, wie bei einer Erstaufführung eines der atonalen Jugendwerke Arnold Schönbergs, als ein Herr heftig zischte und pfiff, mein Freund Buschbeck ihm eine ebenso heftige Ohrfeige versetzte; überall waren wir die Stoßtruppe und der Vortrupp jeder Art neuer Kunst, nur weil sie neu war, nur weil sie die Welt verändern wollte für uns, die jetzt an die Reihe kamen, ihr Leben zu leben. Weil wir fühlten, ›nostra res agitur‹.

      Aber es war noch etwas anderes, was uns an dieser neuen Kunst so maßlos interessierte und faszinierte: daß sie fast ausschließlich eine Kunst junger Leute war. In der Generation unserer Väter kam ein Dichter, ein Musiker erst zu Ansehen, wenn er sich ›erprobt‹, wenn er sich der gelassenen, der soliden Geschmacksrichtung der bürgerlichen Gesellschaft angepaßt hatte. Alle die Männer, die zu respektieren man uns gelehrt hatte, benahmen und gebärdeten sich respektabel. Sie trugen ihre schönen, graumelierten Bärte – Wilbrandt, Ebers, Felix Dahn, Paul Heyse, Lenbach, diese heute längst verschollenen Lieblinge jener Zeit – über poetischen Samtjacken. Sie ließen sich mit sinnendem Blick photographieren, immer in ›würdiger‹ und ›dichterischer‹ Haltung, sie benahmen sich wie Hofräte und Exzellenzen und wurden wie diese mit Orden geschmückt. Junge Dichter oder Maler oder Musiker aber wurden bestenfalls als ›hoffnungsvolle Talente‹ vermerkt, eine positive Anerkennung dagegen vorläufig in den Eisschrank gelegt; jenes Zeitalter der Vorsicht liebte es nicht, vorzeitig eine Gunst auszuteilen, ehe man nicht durch langjährige ›solide‹ Leistung sich bewährt hatte. Die neuen Dichter, Musiker, Maler aber waren alle jung; Gerhart Hauptmann, plötzlich aus völliger Namenlosigkeit aufgetaucht, beherrschte mit dreißig Jahren die deutsche Bühne, Stefan George, Rainer Maria Rilke hatten mit dreiundzwanzig Jahren – also früher, als man nach dem österreichischen Gesetz für mündig erklärt wurde – literarischen Ruhm und fanatische Gefolgschaft. In unserer eigenen Stadt entstand über Nacht die Gruppe des ›jungen Wien‹ mit Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg, in denen die spezifisch österreichische Kultur durch eine Verfeinerung aller Kunstmittel zum erstenmal europäischen Ausdruck fand. Aber vor allem war es eine Gestalt, die uns faszinierte, verführte, berauschte und begeisterte, das wunderbare und einmalige Phänomen Hugo von Hofmannsthals, in dem unsere Jugend nicht nur ihre höchsten Ambitionen, sondern auch die absolute dichterische Vollendung in der Gestalt eines beinahe Gleichaltrigen sich ereignen sah.

      Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung; in der Weltliteratur kenne ich bei solcher Jugend außer bei Keats und Rimbaud kein Beispiel ähnlicher Unfehlbarkeit in der Bemeisterung der Sprache, keine solche Weite der ideellen Beschwingtheit, kein solches Durchdrungensein mit poetischer Substanz bis in die zufälligste Zeile, wie in diesem großartigen Genius, der schon in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahr sich mit unverlöschbaren Versen und einer noch heute nicht überbotenen Prosa in die ewigen Annalen der deutschen Sprache eingeschrieben hat. Sein plötzliches Beginnen und zugleich schon Vollendetsein war ein Phänomen, wie es sich innerhalb einer Generation kaum ein zweites Mal ereignet. Als beinahe übernatürliches Begebnis haben darum alle jene das Unwahrscheinliche seiner Erscheinung angestaunt, die zuerst davon Kunde erhielten. Hermann Bahr erzählte mir oft von dem Staunen, als er für seine Zeitschrift gerade aus Wien einen Aufsatz von einem ihm unbekannten ›Loris‹ – eine öffentliche Publikation unter eigenen Namen war im Gymnasium unerlaubt – erhielt; nie hatte er unter Beiträgen aus aller Welt eine Arbeit empfangen, die in so beschwingter, adeliger Sprache solchen gedanklichen Reichtum gleichsam mit leichter Hand hinstreute. Wer ist ›Loris‹, wer dieser Unbekannte?, fragte er sich. Ein alter Mann gewiß, der in Jahren und Jahren seine Erkenntnisse schweigsam gekeltert hat und in geheimnisvoller Klausur die sublimsten Essenzen der Sprache zu einer fast wollüstigen Magie kultiviert. Und solch ein Weiser, solch ein begnadeter Dichter lebte in derselben Stadt, und er hatte nie von ihm gehört! Bahr schrieb sofort dem Unbekannten und verabredete eine Besprechung in einem Kaffeehaus – dem berühmten Café Griensteidl, dem Hauptquartier der jungen Literatur. Plötzlich kam mit leichten, raschen Schritten ein schlanker, noch unbärtiger Gymnasiast mit kurzen Knabenhosen an seinen Tisch, verbeugte sich und sagte mit einer hohen, noch nicht ganz mutierten Stimme knapp und entschieden: ›Hofmannsthal! Ich bin Loris.‹ Nach Jahren noch, wenn Bahr von seiner Verblüffung erzählt, überkam ihn die Erregung. Er wollte es zuerst nicht glauben. Ein Gymnasiast, dem solche Kunst, solche Weitsicht, solche Tiefsicht, solche stupende Kenntnis des Lebens vor dem Leben zu eigen war! Und beinah das gleiche berichtete mir Arthur Schnitzler. Er war damals noch Arzt, da seine ersten literarischen Erfolge noch keineswegs Sicherung der Lebensexistenz zu verbürgen schienen; aber er galt schon als Haupt des ›jungen Wien‹, und die noch Jüngeren wandten sich gern an ihn um Rat und Urteil. Bei zufälligen Bekannten hatte er den hochaufgeschossenen jungen Gymnasiasten kennengelernt, der ihm durch seine behende Klugheit auffiel, und als dieser Gymnasiast die Gunst erbat, ihm ein kleines Theaterstück in Versen vorlesen zu dürfen, lud er ihn gerne in seine Junggesellenwohnung, freilich ohne große Erwartung – nun eben ein Gymnasiastenstück, sentimentalisch oder pseudoklassisch, dachte er. Er bestellte einige Freunde; Hofmannsthal erschien in seinen kurzen Knabenhosen, etwas nervös und befangen, und begann zu lesen. »Nach einigen Minuten«, erzählte mir Schnitzler, »horchten wir plötzlich scharf auf und tauschten verwunderte, beinahe erschrockene Blicke. Verse solcher Vollendung, solcher fehlloser Plastik, solcher musikalischer Durchfühltheit, hatten wir von keinem Lebenden je gehört, ja seit Goethe kaum für möglich gehalten. Aber noch wunderbarer als diese einmalige (und seitdem von niemandem in deutscher Sprache mehr erreichte) Meisterschaft der Form war die Weltkenntnis, die nur aus magischer Intuition kommen konnte, bei einem Knaben, der tagsüber auf der Schulbank saß.« Als Hofmannsthal endete, blieben alle stumm. »Ich hatte«, sagte mir Schnitzler, »das Gefühl, zum erstenmal im Leben einem geborenen Genie begegnet zu sein, und ich habe es in meinem ganzen Leben nie mehr so überwältigend empfunden.« Wer so mit sechzehn begann – oder vielmehr nicht begann, sondern schon vollendet war im Beginnen –, mußte ein Bruder Goethes und Shakespeares werden. Und wirklich, die Vollendung schien sich immer mehr zu vollenden: nach diesem ersten Versstück ›Gestern‹ kam das grandiose Fragment des ›Tod des Tizian‹, in dem die deutsche Sprache sich zu italienischem Wohllaut erhob, kamen die Gedichte, deren jedes einzelne für uns ein Ereignis war, und die ich heute noch nach Jahrzehnten Zeile für Zeile auswendig weiß, kamen die kleinen Dramen und jene Aufsätze, die Reichtum des Wissens, fehllosen Kunstverstand, Weite des Weltblicks magisch in dem wunderbar ausgesparten Raum von ein paar Dutzend Seiten zusammendrängten: alles, was dieser Gymnasiast, dieser Universitätsstudent schrieb, war wie Kristall, von innen her durchleuchtet, dunkel und glühend zugleich. Der Vers, die Prosa schmiegten sich wie duftendes Wachs vom Hymettos in seine Hände, immer hatte durch ein unwiederholbares Wunder jede Dichtung ihr richtiges Maß, nie ein Zuwenig, nie ein Zuviel, immer spürte man, daß ein Unbewußtes, ein Unbegreifliches geheimnisvoll ihn lenken mußte auf diesen Wegen ins bisher Unbetretene.

      Wie ein solches Phänomen uns, die wir uns erzogen hatten, Werte zu spüren, faszinierte, vermag ich СКАЧАТЬ