Название: Vitus' Biene
Автор: Ines Mandeau
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783745096958
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Mit ernsten Mienen beobachten wir den braunen Fleck vor uns, um das möglicherweise just bevorstehende Ereignis nicht zu verpassen. „Ich sehe nichts“, sagt Fini schließlich enttäuscht.
„Aber ich!“, rufe ich triumphierend. „Guck-guck, hier ist ein grüner Punkt und dort ist noch einer!“ Ich bohre meinen durchgestreckten Zeigefinger im Stakkato ein paar Mal in die durchweichte Erde und behaupte: „Lauter grüne Punkte! Juchhu, es kommt das Gras herausgeschossen!“
Fini schüttelt den Kopf. „Da ist nichts.“
„Doch!“, beharre ich, hüpfe auf die Beine und beginne herumzuwirbeln schlimmer als ein Rumpelstilzchen. „Alles ist grünegrün und buntibunt! Juchhu! Die Sonne hat den Schnee gefressen, der Schnee ist weg, das Gras ist da, die Gänseblüm’ sind da, die Löwenzahn sind da“, singe ich in irrem Durcheinander und schleudere die Arme durch die Luft und tanze einen wilden Taumel um die zarte Josefine, die am Boden kauert und mich mit offenem Mund anstarrt. „Tralla-li, tralla-la, der Löwenzahn, der Zahn ist da!“
Plötzlich steht die Oma im Türrahmen. „Was tust du denn? Was redest du für dummes Zeug? Hier sind keine Löwenzahn. Hier ist alles schneeig.“ Missbilligend sieht sie mich an: „So eine spinnerte Geiß. Marsch, zieht eure Doggln an, und ab in die Stube!“
Da werde ich wach. Wo bin ich? Ich setze mich im Bett auf und schaue in die weißgekalkte Zimmerwand. Keine Spur ist zu sehen von einer Wiese voll blühender Löwenzahn. Morpheus hat sie eingepackt und ist entschwunden mit der gelben Pracht.
Ein Seufzer löst sich aus der Brust und ich schmiege mich ins daunengeblähte Kissen hinein. Ein Traum war es vom Elternhaus, einem Bauernhof in den Tiroler Bergen mit dem schönen Namen Rauschenstein, der vom reißenden Bach hinter dem Stallgebäude herrührt. Im Schlaf geträumt habe ich, von meiner Lieblingsschwester Fini und einem Frühlingstag, der länger als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Es war ein glücklicher Tag gewesen, oder? Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit gehabt, nicht wahr?
Ich schließe die nassen Augen und denke nach. Meine frisch verheirateten Eltern warteten einst gespannt auf die Geburt ihres ersten Kindes. Es kam zwei Jahre nach der Hochzeitsnacht auf die Welt, ich war’s, ein Mädchen zwar nur, aber, so erzählt man, dennoch ersehnt und willkommen geheißen – auch von der Altbäuerin, die durch mich zur Großmutter wurde. Die Geschwister meines Vaters dürften sich ebenfalls gefreut haben, verhalf ich doch ihnen, den kaum Volljährigen, zur beliebten Rolle von Onkeln und Tanten vor Ort. Wir lebten zusammen unter einem Dach gemäß der Ahnen Sitte, eine hübsche Mehrgenerationenfamilie, die den Sprösslingen quasi automatisch eine vielschichtige Sozialisation bescherte.
Geträumt habe ich also. Ich bleibe liegen und halte die Lider geschlossen. Es ist ein Sonntagnachmittag in Monaco und was hätte ich zwangsvergatterte Rentnerin anderes zu tun, als zu träumen und Vergangenem nachzuweinen.
Vor dem geistigen Auge entfaltet sich die prallgrüne Wiese mit den farbenfrohen Blumentupfen, die meinem kindlich kleinen Blickwinkel endlos bis zum Horizont zu reichen schien. Diese Wiese war der unverrückbare Grund und Boden, auf dem ich gemeinsam mit den jüngeren Geschwistern groß geworden bin, bis die frühe Stunde kam, Abschied zu nehmen vom Elternhaus, zunächst ins Tal und dann in die umliegenden Städte zu ziehen, ein jeder von uns nach seiner Art, auf seinem eigenen Weg. Nur das älteste männliche Kind, der sanfte Bruder mit den breiten Schultern, blieb auf der traditionsgetränkten Almenscholle haften. Er folgte pflichtbewusst seiner Vorbestimmung, den Erbhof weiterzuführen, und ist nun der amtierende Bauer mit tüchtiger Frau und überaus quirligem Nachwuchs.
Mein Kontakt beschränkt sich auf Besuche zu den unumgänglichen Familienfesten, an denen sich die zahlreiche Verwandtschaft einfindet auf Rauschenstein, unser aller Keimesboden. Die letzte Generalversammlung gab es anlässlich des Goldenen Hochzeitsjubiläums meiner Eltern vor drei Jahren. An jenem Tag begegnete ich auch der Tante Burgi wieder, die mir längst fremd geworden war und die ich bloß sporadisch getroffen hatte. Sie erkannte mich und grüßte mit dem melodischen „Biene Blume Hungga“, als hätte sie buchstäblich darauf gelauert, ihr Gsatzl gewissenhaft hersagen zu dürfen, damit ich es nicht vergessen möge.
Es war eine fröhliche Zusammenkunft an jenem heiteren, raureifigen Novembertag, an dem meine sehr alten, doch rüstigen Eltern ihr fünfzigstes Ehejahr feierten. Dermaßen viele Gratulanten fanden sich ein, dass der gebuchte Gasthaussaal nicht alle zu fassen vermochte und Behelfstische in einem Vorraum aufgebaut werden mussten, was den Eindruck eines Riesentrubels noch einmal verstärkte. Tante Burgi, Mitte siebzig, drei Täler und vier Gipfel von Rauschenstein entfernt gepflogenheitskonform verheiratet mit dem Erbbauern zu Distelberg, der mitangereist war und eine kolossale Kuhglocke als Geschenk herbeischleppte, die Tante also erkannte mich in der wogenden Gästeschar, steuerte auf mich zu, rief schallend „Grüß Gott“, und ergänzte halb lächelnd, halb singend: „Bie – nee – Blu – mee – Hungg – ahh! Das hast du als kleines Kind gesagt.“
„Geh“, erwiderte ich freundlich, „ehrlich?“
„Ja“, bekräftigte die alte, schmächtig gewordene Frau mit dem verwitterten Gesicht. „Ich weiß es ganz genau.“
Und bevor ich sie um eine Erläuterung hätte bitten können, wandte sie sich der nächsten Nichte zu, dem nächsten Neffen, dann deren Kindern, eine Menge Babys war zugegen, und ich fragte mich, ob sie denen auch eine individuell gewidmete, wunderliche Verszeile vorträllerte? Das werde ich wohl nie erfahren, ebenso wenig die begleitenden Umstände, welche mich als Kind zu den besagten angeblich ersten Worten veranlasst hatten. Aus unerfindlichem Grunde kam ich mit Tante Burgi nie in ein erwachsenes Gespräch. Ich nehme mir vor, bei einem künftigen Wiedersehen auf eine erhellende Ausdeutung der lyrischen Miniatur zu drängen.
Warum ist mir Tante Burgi im Sinn? Im Traum vorhin trat sie gar nicht auf. Statt ihrer ist die herbe Oma erschienen, die in ihrer Domäne der Familienzucht und Haushaltsordnung ein drakonisch verbissenes Regiment geführt hatte. Die Oma – ich erinnere mich – mochte „Hunnck“. Es ist der Dialektbegriff für Bienenhonig, und dieser war der Altbäuerin kostbarer als sämtlich Gold der Welt. Honig heilt, glaubte sie.
Da fällt mir auf, dass in Burgis Gsatzl nicht von „Hunnck“ die Rede ist, sondern von „Hungga“, was zwar nur eine geringfügige, aber merkliche Abänderung darstellt. Demnach habe ich, wenn ich Tantes Überlieferung für bare Münze nehme, ein einsilbiges Wort auf zwei Silben ausgedehnt. Wie passierte das denn?
Ich kannte außer dem Dialekt dieser Gegend keine andere Sprache, und dort hieß es eindeutig „Hunnck“. Dafür sorgte allein schon die pedante Oma, die eine Abweichung von der Tradition einzig unter der exotischen Bedingung geduldet hätte, dass diese vom Dorfpfarrer, einem erzkatholischen, Dogmen geeichten Gottesdiener, erlaubt worden wäre. Wie lauteten die Zehn Gebote an mich, die weibliche, zum Verdruss der Erziehungsverpflichteten tendenziell aufmüpfige Vorhut in der langen Geschwisterreihe?
Erstens: Du sollst deine Geschwister hüten.
Zweitens: Du sollst nie streiten.
Drittens: Du sollst immer vernünftig sein. Tralla-la.
Viertens: Du sollst … Tralla-li, tralla-la …
Fünftens: Der Löwenzahn, der Zahn ist da …
Hör auf! Was denk ich da?
So ein Kraut- und Rübenhaufen!
Wahrlich, das reicht!, – das reicht ewigeins.
Ich wälze mich im Bett, als könnte ich СКАЧАТЬ