Название: Könnenwollen I
Автор: Paul Hartmann Hermann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783844233889
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Der kardiologische Oberarzt wirkte leicht genervt, wie jeder Oberarzt, der gerne Chef wäre oder niedergelassener Arzt in eigener Praxis, nur ohne die Verantwortung oder ohne die finanziellen Risiken tragen zu müssen. Er war gerade dabei, eine Kardiosonographie bei Kahler durchzuführen.
„Die Pumpe ist klein, aber kräftig. Die Wandstärke der linken Kammer ist grenzwertig: 13 Millimeter. Den Hochdruck haben Sie wahrscheinlich schon länger. Die Klappen sind okay, nur bei der Mitralklappe sieht man einen kleinen Jet. Nichts Schlimmes. Kommt von der Muskelhypertrophie.“
„Herr Kollege, darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten?“, hob Kahler mit dünner Stimme an.
„Nur zu, ich habe schon lange kein Geheimnis mehr verraten bekommen.“
„Ich habe in den Fragebögen gelogen.“
„?“
„Mein Alkoholkonsum in den letzten Monaten lag nicht unter einer Flasche Wein.“
Der Oberarzt reagierte weitgehend desinteressiert und ließ sich über die allgemeine kardioprotektive Wirkung des Alkohols aus. „Natürlich haben Sie ab 30 Gramm Alkohol pro Tag auch Nebenwirkungen. Das sind ungefähr 0,2 Liter Wein oder 0,5 Liter Bier. Sie kennen das ja, Leberprobleme, Polyneuropathie, die Bauchspeicheldrüse usw. Bluthochdruck steht da nicht im Vordergrund.“
Kahler kramte in seinem Oberstübchen nach den spärlichen Resten seines internistischen Basiswissens. Das mit dem Alkohol und dem Bluthochdruck hatte er sich anders gemerkt.
Die kleine junge Schwester, die ihm den Verband am Bauchkatheter wechselte, hatte ein Tatoo auf der Kopfhaut hinter dem rechten Ohrläppchen. Kahler sprach sie darauf an. Sie antwortete etwas verlegen. Ja, das G wäre der Anfangsbuchstabe ihres Vornamens. Und sie könne die Tätowierung dadurch verstecken, dass sie ihre Haare öffnet. Irgendwie goldig, fand Kahler, wenn man das Tatoo nicht sieht, dann braucht man es ja auch nicht, oder? Während sie sich weiter am neuen Verband zu schaffen machte, erzählte Kahler, dass er mal vor langer Zeit ein paar Monate als Musterungsarzt gearbeitet hätte. Da hätte er viele Tätowierungen gesehen. Eine sei ihm noch in besonderer Erinnerung geblieben. Dabei deutete er auf seine rasierte Schamregion. Da hätte in fetten schwarzen Lettern NUR FÜR DICH gestanden. In dem Moment, wo er das sagte, tat es ihm schon wieder leid. Aber sie reagierte sehr souverän. „Das passt ja immer“, sagte sie.
Eine Katastrophe war das Essen. Auf blassgelben Tabletts standen Teller, die mit einer blassgrauen Plastikhaube abgedeckt waren. Darunter befand sich alles, was böses Essen ausmacht: Faseriges Bratenfleisch, totes Gemüse, Kartoffelsalat aus dem Eimer und Salami mit 120 Prozent Fettgehalt, Fischbouletten mit einer Art Holzmehlsurrogat, absolut geschmackfreies Obst usw.. Die tiefer gelegte stämmige Stationshilfe, die für die Essensausgabe zuständig war, schaute Kahler vorwurfsvoll an, wenn er wieder mal sein Essen nicht angerührt, oder allenfalls ein paar Brocken vertilgt hatte.
Auf der Innenseite jeder Schranktüre befanden sich Warnhinweise, man solle Wertsachen sichern. Die Schwestern berichteten von üblen Raubzügen trotz abgeschlossener Zimmertüre. Kahler verstaute daher seine Wertsachen in dem windigen kleinen Tresor im Waschbeckenschrank. Den Schlüssel versteckte er hinter einem Bilderrahmen, der aus einem Aluminiumwinkelprofil bestand. Er kam sich unheimlich clever vor. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei aber um das unter Dieben bestens bekannte Standardversteck.
„Dann machen Sie mal das Professor-Doktor vor meinem Namen weg.“ Kahler meinte das Schild außen neben der Zimmertür. „Das könnte Gauner besonders anziehen.“
„Aber unser Chef legt großen Wert darauf, dass auch die Titel der Patienten dort erscheinen. Er sagt, dass man zu seinem erworbenen Titel stehen sollte.“
Das ist ein Mann der alten Schule, dachte sich Kahler, nicht so einer von der Piratenfraktion. Die wollen den alten Herrschaften doch nur im Generationenkampf—unter dem Mäntelchen von IT und Basisdemokratie—Status, Urheberrechte und Privilegien klauen.
Kahler stand in seinem OP-Hemdchen vor der versammelten Mannschaft der urologischen Abteilung. Jedenfalls waren alle Schwestern und Schwesternhelferinnen angetreten, die ihn versorgt hatten. „Ihr habt nun alle meinen Pimmel gesehen. Ich fände es nur fair, wenn ich auch etwas zu sehen bekomme“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton.“ Bevor es auch nur ansatzweise zu dieser Aktion gekommen wäre, zerplatzte Kahlers frivole Traumblase in tausend Fetzen und er wachte stöhnend auf. Durch eine ruckartige Körperwendung hatte er einen starken schmerzhaften Zug auf seinen an der Haut angenähten suprapubischen Katheter bekommen. Nichts war es mit dem konspirativen Tipp des erstbehandelnden Urologen, dass man spätestens nach drei Tagen abhauen könnte. Kahler hing durch den Bauchkatheter wie am Angelhaken. Erst wenn der entfernt würde, könnte er wieder frei schwimmen.
Warum, verdammt noch mal, kümmert sich niemand um meinen Stuhlgang, fragte sich Kahler. Stuhlgang im Krankenhaus ist quasi Privatsache. Es wird ein Riesenbohei um Wahlessen, Zwischenmahlzeit, Obstteller und Schwarz- oder Weißbrot gemacht, dann aber werden Patient und Nahrung allein gelassen. Klar, das hier ist die Urologie und nicht die Bauchchirurgie oder die Gastroenterologie. Aber hallo Leute, der Darm ist größer und mächtiger als die ableitenden Harnwege. Die Oberfläche der Darmschleimhaut hat das Ausmaß der Grundstücksfläche eines Reiheneckhauses und im Darm residiert der größere Teil unseres Immunsystems. Fast das gesamte Serotonin des Körpers wird dort gebildet. Und dieses Organ ist sich auch seiner Macht bewusst. Jedenfalls war das bei Kahler so. Züchtigungsmittel waren massive Blähungen, welche seinen Bauch bizarr auftrieben, verbunden mit Völlegefühl, als wenn sich Findlinge in seinem Bauch eingenistet hätten.
„Wir führen ab dem zweiten postoperativen Tag ab, erst Bifiteral zum Weichmachen und dann Dulcolax. Das muss acht Stunden einwirken, bis die Darmtätigkeit anspringt“, sagte die Schwester zu Kahler. Er hatte sich hilfesuchend an sie gewendet: „Wenn das nichts bringt, dann könnt ihr mich auf die Geburtshilfe verlegen.“ Und es tat sich nichts. Durch die wochenlange Antibiotikum-Einnahme hatten sich die zwei Kilogramm Darmfauna gegen den Wirtsorganismus gewandt. Es halfen wiederum nur Suppositorien.
Am dritten Tag war es so weit. Der Chefarzt war mit der Urinfarbe zufrieden. Der Harnröhrenkatheter könne gezogen werden, sagte er. Kurze Zeit später hieß es: „Tief einatmen und nun kräftig husten“, und der Katheter war draußen. Natürlich hatte die Schwester vorher die Blockung aufgehoben.
Am nächsten Tag wurde der Bauchdeckenkatheter verstöpselt.
„Jetzt soll der Urin wieder ganz normal fließen“, sagte der Chefarzt.
Kahler hatte Bammel. Seit knapp vier Wochen war der Saft nicht mehr via naturalis abgegangen. Würde das funktionieren? Würde das weh tun? Wie justiert sich das Detrusorsystem neu?
„Sie messen bitte mit der Bettflasche die Urinmengen, die aus dem Harnröhrenkatheter und dem Bauchkatheter kommen.“
Es muss laufen, betete Kahler, sonst kriege ich wieder den verdammten Harnröhrenkatheter eingesetzt. Bloß das nicht. Er trank und trank, aber es stellte sich kein Harndrang ein. Er meinte zu spüren, wie sein instabiler Bluthochdruck wieder höher ging. Die Temperatur war bei schwüler Witterung schon am Vormittag über 25 Grad angestiegen. Er bekam Schweißausbrüche. Immer noch nichts. Läuft dieser wahrhaft schlechte Film jetzt rückwärts? Er schüttete noch einen halben Liter Wasser in sich hinein. Und dann hielt er die Urinflasche einfach an den Ausgangsstutzen, СКАЧАТЬ