Название: Der Sommelier
Автор: Helfried Stockhofe
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783741804229
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Walter war auf halber Strecke umgestiegen, um in seinen Wohnort weiterzureisen. Er arbeitete dort als eine Art freiberuflicher Geschmackstester für Getränke und für verschiedene industriell hergestellte Speisen. Es war nach dem Unfall ein mühsamer Weg gewesen, bis er zu dieser Tätigkeit fand. Es vergingen Monate, ja Jahre, bis er nach mehreren Kopfoperationen körperlich wieder einigermaßen hergestellt war. Und psychisch? Er gab sich immer die Schuld an dem Unfall, zumal die Polizei- und Gutachterberichte ihm diese nahelegten. Er selbst hatte keine Erinnerung an das Geschehene. Er wusste nur noch, wie er mit seinen Eltern ins Auto gestiegen und losgefahren war. Dann war er irgendwann im Krankenhaus aufgewacht. Im Dorf war er bekannt als schneller Fahrer. Das Auto sei rechts von der Fahrbahn abgekommen, er habe nach links gezogen und sei übersteuert über die Straße geschossen. Der Wagen habe sich einen kleinen Abhang hinunter mehrfach überschlagen und sei schließlich in einem Sonnenblumenfeld gelandet.
Walter hatte sich nach mehrwöchigem Koma, Klinikaufenthalten und Rehabilitationskuren nicht mehr ins Dorf getraut. Still und leise hatte er das geregelt oder regeln lassen, was nach dem Tod seiner Eltern dort noch zu regeln war, das Haus verkauft und sich in ein Blindenheim zurückgezogen. Dort war er vor Jahren wieder ausgezogen in seine jetzige behindertengerechte Mietwohnung. Nur einmal im Jahr besuchte er seinen Heimatort und ging auf das Grab seiner Eltern. Anfangs hatte er Angst, man könnte ihn kritisch auf den Unfall ansprechen, aber offenbar schützte ihn seine bemitleidenswerte Blindheit vor verbalen Attacken. Im Verlauf der Jahre gab er sich das Recht, mehr und mehr zum Leben zurückzukehren. Er erwarb sich Fähigkeiten, die ihm das Zurechtkommen erleichterten und wagte sich schließlich sogar ins Berufsleben. Keinen Zugang fand er aber zu einer engeren partnerschaftlichen Beziehung. Hier hinderte ihn schon innerlich seine Behinderung und körperliche Entstellung, die er aber mit Sonnenbrille und verdeckenden Frisuren zu verbergen wusste. Als er Glasaugen bekam und man ihm bestätigte, wie gut er damit aussehe, traute er sich wieder mehr unter die Leute.
Er war immer sehr eitel gewesen. Den Mädchen stieg er schon als 15-Jähriger nach. Ein richtiger Angeber! Wenn er in ruhigen Zeiten nach dem Unfall darüber nachdachte, kam ihm die Vermutung, dass ihm seine sexuellen Erfahrungen mit dem dicken Robert geschadet hatten, dass er kompensatorisch umso mehr hinter den Mädchen her war und seine Attraktivität von denen immer bestätigt sehen wollte.
Seine diesbezüglichen Strategien waren sehr erfolgreich, was sicher auch mit einem von der Natur geschenkten anziehenden Äußeren zu tun hatte. Wenn der Reiz des Äußeren aber nach einigen Wochen verflogen war und die Mädchen bei ihm innere Werte vermissten, wurden die jungen Frauen zu blöden Weibern, die ihn ja gar nicht verdient hatten. Dank seines Schulbesuchs im Gymnasium der Kreisstadt gab es genügend Auswahl, um das Spiel von vorne beginnen zu lassen.
Schulisch lavierte er sich durch zwischen einem bei seinen Anlagen durchaus möglichen Streber und einem Schulversager, der er auch nicht sein wollte. So galt er immer als begabter Schüler, der, statt seine Möglichkeiten zu nutzen, faul, manchmal frech daherkam, aber immer die Lacher auf seiner Seite hatte.
Zum achtzehnten Geburtstag schenkte ihm sein Vater ein Auto, um ihm die umständliche Busfahrt zur Schule zu ersparen. Der Vater tat das auch aus Eigennutz, weil der Sohn den Anspruch hatte, von einem Elternteil abgeholt zu werden, wenn sein Stundenplan nicht den Fahrzeiten des Busses entsprach. Nun, jetzt konnte er selbst fahren. Was er leidenschaftlich gerne tat und was seinen Kredit bei den anderen noch erhöhte, wenn er sie mitnahm auf rasante Fahrten durch die oberpfälzischen Wälder. Nicht geplant war, dass der verzogene Bengel, statt nach dem Abi zu studieren, lieber eine Lehre und Anstellung als Autoverkäufer in Angriff nahm …
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Robert war schon immer einer, der den anderen gerne zusah, sie beobachtete und auf diesem Wege teilnahm an einem Leben, zu dem er selber keinen Zugang fand. Als Kind imitierte er das Verhalten anderer Kinder, ohne dessen Sinn zu verstehen. Und meist fehlte ihm das letzte Quäntchen Intelligenz, das ihn damit erfolgreich gemacht hätte. So war er oft ein Dummerchen, über das man lachte. Seine einfachen Eltern hatten viel Arbeit und vernachlässigten den Sohn. Seine Lernbehinderung taten sie ab mit dem Hinweis, dass auch schon der Vater so gewesen sei und aus dem auch etwas geworden wäre. Überfordert waren sie mit den aggressiven und sexuellen Verhaltensweisen ihres Sohnes. Unschuldige Doktorspiele in der Vorschulzeit bestraften sie mit Schlägen, Quälereien an Fröschen oder Mäusen quittierten sie mit Lachen. Dass der Sohn seine Sexualneugier mit Spannereien befriedigen musste, von denen das Aufbohren von Löchern in Umkleidekabinen des Naturbadeweihers noch das Harmloseste war, bekamen sie nicht mit.
Roberts Beobachtenwollen war gepaart mit dem ständigen Gefühl des Beobachtetwerdens. Das trat natürlich dann besonders in den Vordergrund, wenn er vermeintlich oder tatsächlich Verbotenes im Sinn hatte. Oft fühlte er sich regelrecht verfolgt. Manchmal war er sich sicher, dass die anderen von ihm Dinge wussten, die er verbergen wollte.
Die fremde Frau auf dem Friedhof ist sicher von Walter beauftragt worden, mich zu beobachten. Sie hat dem ja anschließend gleich Bericht erstattet. Wer ist diese Frau? Was weiß die über mich? Hat ihr der Walter auch von den Sex-Sachen erzählt? Sicher weiß die auch von dem Unfall!
Es war für den Hotelangestellten Robert nicht schwierig, sich heimlich die Adresse zu besorgen. Im Hotel hatte er zudem erfahren, dass Alina Winner eine Psychologin war, eine Tiefenpsychologin sogar.
Die kennt sich aus. Hatte der Thorsten damals doch recht gehabt! Irgendwann, so hatte der Thorsten gesagt, wird man mir auf die Schliche kommen. Dass ich schuld am Unfall bin.
Robert hatte Thorsten damals von seinen Gedanken erzählt, die er vor dem Unfall hatte und die nach seiner festen Überzeugung den Unfall herbeigeführt hatten: Er wünsche es dem Walter, dass der einmal mit dem Auto verunglücke. Dem Angeber, der alle Jungs und Mädchen haben kann. Noch am Unfalltag hat er ihm diesen Denkzettel gewünscht. Aber dass die Eltern dabei sterben, nein, das wollte er doch nicht!
Und dann kam der erste Jahrestag des Unfalls. Und am selben Tag stürzten in Amerika die Türme ein! Das ist ein Zeichen! Buße tun, sonst passiert noch mehr! Aufpassen, dass man nicht erwischt wird! Immer der 11.! Die 11 ist meine Schicksalszahl. Nur nicht nachlassen!
Dann musste Robert doch einmal nachgelassen haben: Am 11.03.11 überrollte ein Tsunami die Küsten Japans mit schrecklichen Folgen! Das befeuerte seine psychotischen Qualen. Nur nicht nachlassen!
Robert musste der Psychologin nachfahren. Als er am nächsten Tag vor dem Haus von Frau Winner stand, kam eine junge hübsche Frau aus dem Praxiseingang heraus.
Die kenn ich doch. Das ist doch … Das ist doch Michelle! Und wer ist der Mann, der sich da versteckt und die Michelle beobachtet? Wer ist das? Den kenn ich doch auch. Der Thorsten? Wirklich wahr, der Thorsten! Michelle und Thorsten hängen also auch noch mit drin! Um Himmels Willen, was soll ich nur tun? War denn alles umsonst? Schnell weg hier! 11 Schritte auf dem Gehsteig. 11 Schritte auf der Straße. 11 Schritte auf dem Gehsteig. 11 Schritte auf der Straße. Schnell weg! Nur nicht nachlassen! Schnell weg!
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