Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher
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СКАЧАТЬ Begeisterung und Verzweiflung geschüttelten Land erlebt jeder einzelne das Schicksal der unsicheren Zukunft, der brennend gefährlichen Gegenwart. Gleich nach dem Überschreiten der Grenze spürt man eine gewissermaßen atmosphärische Last der Unfreiheit und des Misstrauens sich drückend auf die Seele niedersenken. Wie gerechtfertigt dieses Misstrauen ist, welch' guten Gründe die Kontrolle hat, erwähnte ich bereits. Immerhin ist der Zustand, in dem zu leben man gezwungen ist, oft schwer, zu Zeiten vollkommen unerträglich. Und das liegt nicht an der Kontrollbehörde allein, sondern an den Scharen der zum Teil ganz zweifelhaften Elemente, deren sie sich bedient, um die nötige Kontrolle auszuüben. Leute der Ochrana (der inoffizielle Oberbegriff für die verschiedenen Geheimdienste und die Geheimpolizei im zaristischen Russland) befinden sich unter ihnen; aber auch manchem neugebackenen Spür- und Bluthund bin ich begegnet.

      Der Publizist mit ausländischem Auftrag lebt in Häusern unter militärischer Bewachung. Filzpantofflige Schufte schleichen durch die Korridore, und um das Schlüsselloch sammelt sich der fettige Abdruck ungewaschener Ohren. Man ist irgendwelchen Winkeltorquemadas ausgeliefert. Einmal hatte ich im Zimmer einer Dame ein Lehrbuch für erwachsene Analphabeten hinterlassen. Als die Dame verhaftet, ihr Zimmer versiegelt wurde, reklamierte ich bei der mir unmittelbar vorgesetzten Behörde, nämlich dem sogenannten Hauskommandanten, dieses Buch, das ich zu meiner Arbeit benötigte. Tags darauf wurde das Zimmer durch die Beamten jener Kontrollbehörde, der „Allrussischen Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und des Wuchers“ (nach den Anfangsbuchstaben Wetscheka genannt), geöffnet, die Habseligkeiten der Dame durchkramt, und als ich mein Lehrbuch zurückforderte, wurde mir mit höhnischer Miene erklärt: dass die Dame das „Buch für Anarchisten“, das ich ihr gegeben hatte, sehr sicher verwahrt habe, denn man könne es nicht finden. Dies ist nur ein kleines Missverständnis, aber an solchem Haken ist schon manch' einer hängen geblieben.

      Da alles, was man an Geschriebenem und Gedrucktem bei sich führt, vor dem Verlassen des Landes der Wetscheka zur Kontrolle vorgelegt werden muss, und da man mit diesem Material dann drei Grenzen zu passieren hat, ehe man wieder daheim ist, stellen die Notizbücher, die man bei sich trägt, natürlich hohle Attrappen vor. Das Wesentliche, ob es nun günstig oder ungünstig für eines der drei Länder lautet, verbirgt man ängstlich im Gedächtnis, um es vor Missverständnis, Unverstand, Spitzeln und Grenzbehörden zu schützen. Dieser Zustand der geistigen Notwehr ist es, der allmählich jenen seelischen Druck, jene spezifische Moskauer Psychose erzeugt, die schwerer zu ertragen ist als alle anderen Nöte, die man in Russland am eigenen Leibe erfährt. Der bare Selbsterhaltungstrieb, die Revolte des guten Gewissens fälscht und entstellt dir das Bild der Wahrheit, das zu enthüllen du unter das große, rätselhafte Volk des Ostens gekommen bist.

      Immer wieder erklärte man mir: Was wir hier brauchen, sind Leute mit Phantasie; keine kleinen klebrigen Matteroffact-Gehirne, deren Horizont auf den Dunstkreis um ihre Nase beschränkt ist. Ich machte den einen und den anderen, der so zu mir sprach, darauf aufmerksam, dass die Führer der Bolschewiki es ja heftig leugneten, ihr Ziel sei die Utopie – und dass dieser oft wiederholte Wunsch nach phantasiebegabten Fremdlingen doch die Suggestion einschließe: der Betrachter möge durch das Gegenwärtige, das Gegebene, durch das Werdende hindurch des leuchtenden Zieles der Utopie gewahr werden, es nie aus den Augen verlieren. Und so ist es auch. Aus den Theorien der Führenden, der Gläubigen, der sich Opfernden, durch all den entsetzlichen Wust der halb und ganz vernichteten Möglichkeiten, durch das unsägliche Wirrsal der Widersprüche, des Provisorischen wie des überhaupt nie zu Verwirklichenden, den Widerstreit von papierner Verordnung und blutigem Daseinskampf, durch die Resultate der erbarmungslosen Kriege, der Blockade, der Sabotage durch die inneren Feinde hindurch das schon Verwirklichte und in einer helleren Zukunft zu Verwirklichende zu erfühlen und zu erblicken – dies ist und bleibt das Wesentliche in Sowjet-Russland.

      Was man erfährt, sind indes Bruchteile von Bruchteilen.

      * * *

      Ich suchte in Russland eine Religion und fand eine Partei. Eine Partei aber, die allerdings eine große Idee, die größte vielleicht, die Menschen je gedacht haben, mit allen Mitteln der politischen Macht und sogar der diplomatischen Schlauheit durchzusetzen bestrebt ist. Ein Franzose sagte mir: „Wir leben hier im Zeitalter der ersten Christenverfolgungen.“ Ein Engländer sagte mir: „Wir in England, in Amerika, wir mutigen und energischen Menschen hätten den Kampf gegen derartige Hindernisse längst aufgegeben.“ Wer aus den Bolschewiki Teufel macht, ist ein Verbrecher, wer aus ihnen Engel macht, ein Narr. Es sind lebendige Menschen, in Gefängnissen, im Exil hart geschmiedete Gehirne, gestählt durch Gefahren, gewaltige, für das Leiden der Unterdrückten offene Herzen, die selber am tiefsten unter der Notwendigkeit leiden, nun wiederum ihrerseits andere unterdrücken zu müssen.

      Wie verhält es sich mit dem, der, ohne einer Partei anzugehören, aus Menschheitsdrang, aus innerer Bedrängnis – wenn auch mit ausgesprochen bürgerlichem Auftrag nach Russland fährt? Mein seelisch gerichteter Kommunismus ist durch die russische Prüfung unversehrt mit mir nach Deutschland zurückgekommen. So wenig der Mensch vor der Revolution beim Baron anfing, so wenig fängt er heute beim Kommunisten an. Da mein Menschheitsideal das herrschaftlose Beisammenleben in voller Freiheit auf Erden bedeutet, darf ich, aus diesem Gesichtswinkel gesehen, den Kommunismus wohl als eine Stufe zu diesem Ziel, mehr noch seiner Durchführbarkeit als seiner baren Theorie nach, einer Kritik unterwerfen. Und in diesem Sinne hatte der „Kommandant“ meines Hauses in Moskau wohl recht, wenn er das Lehrbuch für Analphabeten mit einem Handbuch für Anarchisten verwechselte.

      „Freiheit ist ein Vorurteil der Intellektuellen.“ Dies steht irgendwo bei Lenin zu lesen. Wenn man nun, in einem Zustand der äußersten persönlichen Unfreiheit von einer Übergangszeit sprechen hört, einer zeitlich beschränkten Diktatur des Proletariats, die eine zeitlich abgeschlossene Diktaturperiode der imperialistischen, kapitalistischen Bourgeoisie ablösen soll und nach der sich alles in eitel Liebe und Gleichheit auflösen wird – wenn man die abgestandene Sentimentalität von den Enkeln, „die es einst besser haben werden“, aus dem Munde der konsequent und konkret denkenden Führer der Bolschewiki zu hören bekommt: dann kann man darauf ruhig erwidern: ihr gebraucht hier die Phrasen von 1914. Es gibt keine Übergangszeit, weil eine Zeit eine andere, keine Übergangsaktion, weil eine Aktion eine andere Aktion gebiert und so fort. Ebenso wenig gibt es Enkel; denn jeder Enkel ist seinerseits wieder Großvater. Es gibt nur einen ewigen Fluss der Dinge, und es gibt jawohl eine verhängnisvolle Verantwortung für die Gegenwart, den blutvoll schrecklichen Augenblick. Ihr selbst wisst es am besten, welche Schlagfertigkeit des Gewissens vonnöten ist, will man die Herrschaft einer Idee aufrichten. Es ist also nicht am Platze, von der allumfassenden Wahrheit zu sprechen, die nur aus den opalnen Fernen der Utopie herüberschimmert, und die nur das phantasiebegabte Auge zu erkennen vermag. Dasselbe Auge, das das Erreichbare betrachtet, muss hart und kühl die Ursache der Widerstände zu ergründen suchen. Wenn sich der Bolschewismus im Flusse befindet, so gibt es eherne Hindernisse, welche sich aus seinem eigenen Wesen emporrecken und seinen Lauf behindern.

      In den letzten Tagen vor meiner Abreise erzählte man mir, dass Trotzki eine Artikelreihe des Inhaltes vorbereite: auf welche Weise den lokalen Sowjets wieder mehr Macht zugewiesen werden könne, die ihnen durch die übertriebene Zentralisation zu entschwinden angefangen hat.

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      Leo Trotzki

      Wenn diese Artikelreihe geschrieben worden ist, wird sie von ungeheurer Tragweite für die Entwicklung des Kommunismus in Russland wie in der Welt sein. Unter allem Vorbehalt und mit größter Vorsicht gebe ich ein Gerücht wieder, das um dieselbe Zeit in Petersburg aufgetaucht war, und das, auch wenn es sich nicht bewahrheitet haben sollte, den Beweis dafür liefert, dass der Bolschewismus ein lebendes Gebilde ist und seine Führer als kluge und den Notwendigkeiten des Tages gewachsene Menschen gelten dürfen.

      Der Anarchist (siehe Band 157e in dieser gelben Buchreihe: Anarchisten) Machnow, von den Bolschewiki als wilder Räuberhauptmann und Partisanenanführer zuerst СКАЧАТЬ