Wie in einem Spiegel. Eckhard Lange
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Wie in einem Spiegel - Eckhard Lange страница 4

Название: Wie in einem Spiegel

Автор: Eckhard Lange

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Antike Sagen - für unsere Zeit erzählt

isbn: 9783738083668

isbn:

СКАЧАТЬ ich war wohl viel zu klein, um seine Leistung zu verstehen. Und Teil dieser Leistung war es ja, dass er selten im Hause war und noch seltener Zeit für den Sohn hatte. Nein, mein Vater war ein Fremder für mich, und er ist es auch noch heute, wenn auch auf eine andere Weise. Mein Leben war geprägt von Mama, und sie liebte ich mit der ganzen Kraft meiner Kinderseele. Dass auch er sie liebte, über alles liebte, habe ich erst erfahren, als wir sie verloren hatten.

       Es geschah alles so plötzlich damals, und ich habe es nicht verstehen können – ja, auch nicht verstehen wollen. Sieben Jahre war ich alt, gerade hatte ich die erste Klasse hinter mich gebracht und freute mich auf die Ferien, die wir gemeinsam an der Ostsee verbringen würden, in dem kleinen Ferienhaus, das der Vater gekauft hatte, als ich drei wurde. Da hieß es plötzlich, Mama sei krank. Der Vater ging mit besorgtem Gesicht durchs Haus, Ärzte kamen und gingen, ich durfte nicht zu ihr, sie brauche Ruhe, sagte man zu mir. Und dann kamen statt der Ärzte Männer in schwarzen Anzügen, der Vater schickte mich ins Kinderzimmer, aber ich sah, wie seine Hände zitterten. Durch das Fenster sah ich, wie die schwarzen Männer etwas genauso Schwarzes, Längliches aus dem Haus trugen, und ich verstand nicht, was dort vor sich ging. Es war der Großvater, der danach zu mir kam, sich umständlich neben mich setzte und mit einer merkwürdig fremden Stimme sagte: „Du musst jetzt sehr tapfer sein, Jason. Deine Mutter ist nun fort, für immer.“ Und als ich ihn nur erschrocken anblickte, nahm er mich in den Arm – es war das einzige Mal, dass er mir so nahe kam – und ergänzte: „Sie ist gestorben.“

       Ich habe nicht geweint damals, nein, denn ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich wollte nur zu ihr, irgendwo musste sie doch sein, und als ich das nicht durfte, habe ich geschrien und getobt, und mein Vater stand ratlos und hilflos dabei, weil er selber am liebsten geschrien hätte vor Schmerz. Nein, er konnte mich nicht trösten, er konnte mich nicht einmal umarmen. Er hat mich allein gelassen, weil er selber so allein war. Aber das habe ich nicht verstanden damals.

       Plötzlich war das Haus leer, niemand, der mich rief, der nach mir fragte, der mich ins Bett brachte, niemand, der mich anlächelte und streichelte. Irgendwann sind sie dann alle zum Friedhof gegangen, aber an mich hat niemand gedacht, eine fremde Frau kam ins Haus und paßte auf mich auf. Es gab keinen Blick auf Mamas totes Gesicht, es gab keinen letzten Blumengruß an ihrem Grab – es war, als gäbe es auch mich gar nicht mehr. Der Vater stand nur schweigend am Fenster, stundenlang, kaum dass er mir einen Blick zuwarf. Dann ging er ins Schlafzimmer, ohne einen Gutenachtgruß an den Sohn, und ich hörte ihn dort manchmal weinen.

       Er kam auch mittags nicht mehr ins Haus, wie er es sonst immer getan hatte – es war ja niemand da, der mit dem Essen auf ihn wartete. Irgendwann fiel ihm ein, dass auch ich am Tisch gesessen hatte, und er sorgte dafür, dass eine andere fremde Frau ins Haus kam und für mich kochte. Aber es schmeckte jetzt anders, und nur wenn der Hunger übermächtig wurde, aß ich, was sie auf den Tisch brachte. Ich glaube, sie hat sich viel Mühe gegeben mit diesem fremden Kind, und sie hatte sicher auch Mitleid mit mir, und manchmal versuchte sie auf eine unbeholfene Art, mich zu trösten, oder wenigstens mich abzulenken. Aber ich wollte nicht getröstet werden, ich wollte meine Mama zurück, und so nahm sie mich eines Tages bei der Hand und wanderte mit mir zum Friedhof, durch den Park vor unserem Haus hindurch und ein Stück weit eine Straße entlang, bis hinter einem hohen Eisenzaun mächtige Bäume ragten.

       Noch nie war ich an einem solchen Ort gewesen, die hohen Hecken, die dunklen Steine mit den goldenen Schriftzügen, das alles wirkte fremd und beklemmend. Dann war da ein breites Beet, blumenbewachsen, ein mächtiger Stein am hinteren Ende, „Erbbegräbnis der Familie Yolck“ las ich darauf, und seitlich darunter Mamas Name und zwei Jahreszahlen. „Da liegt deine Mutter,“ sagte die fremde Frau und legte einen kleinen Blumenstrauß neben den Stein. „Aber ihre Seele ist nicht hier, sie ist im Himmel, und sicher schaut sie von dort herab und sieht dich.“ Sie hat es gut gemeint, aber verstehen konnte ich nicht, was sie sagte. Wie sollte ich auch begreifen, dass Mama dort tief in der dunklen Erde lag und zugleich vom Himmel herabschaut – wie sollte ich überhaupt verstehen, dass sie fort war, dass sie mich alleingelassen hat.

       Die Schule begann, die Lehrerin sagte zu den anderen Kindern, dass ich meine Mama verloren hätte und dass sie nun besonders lieb zu mir sein müssten. Aber das war nach einigen Tagen schon wieder vergessen, und mir war es auch lieb, dass die Schulkameraden mich nicht mehr nach meiner Mama fragten. Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass sie irgendwo vergraben lag und zugleich im Himmel war.

       Den Vater sah ich noch seltener als früher, und wenn er im Haus war, blickte er mich nur traurig an. Erst später erfuhr ich, ich sähe meiner Mutter sehr ähnlich, und das hätte ihn stets an seinen Schmerz erinnert. Und auch das andere habe ich erst viel später erfahren: Dass er zwar täglich fortging, aber nur selten in seiner Fabrik ankam, sondern stundenlang auf dem Friedhof weilte und danach ziellos durch die Straßen lief. Die Aufträge für das Werk, die Produktion, der rechtzeitige Versand – das alles kümmerte ihn nur noch wenig; eine Zeitlang warteten seine Angestellten noch auf die nötigen Anordnungen, dann begannen sie, selbst zu handeln und selbst zu entscheiden. Nur weil zwei treue Prokuristen, die noch unter Großvater gearbeitet hatten, die Geschäfte erledigten, blieb das Werk erhalten. Um die Gewinne allerdings kümmerte sich niemand, es gab keine Spenden mehr von der Yolck Pharma KG, aber es gab auch kaum noch größere Investitionen, weil der unternehmerische Weitblick fehlte. So jedenfalls hat man es mir erzählt – später, als ich schon fort war von zu Hause.

       Als der Großvater - Kurt Yolck - die Firma in die Hände meines Vaters legte, verblieb er jedoch als Gesellschafter, nunmehr als bloßer Kommanditist, und in einem Anflug von Großmut trat er einen kleinen Teil seines einliegenden Kapitals an meinen Onkel Peer ab, machte ihn damit zum Mitgesellschafter. Ach, dieser Peer! Eigentlich war er nichts als ein früher Fehltritt des Großvaters, und es gab nur wenig Kontakt zwischen den beiden Brüdern. Kurt Yolck hatte gerade eine Apotheke in der Innenstadt übernommen und sich in die erste Helferin, die er danach einstellen konnte, verliebt. So kam, überraschend und ungewollt, Peer, der erste Sohn, zur Welt, und wie es in den zwanziger Jahren von einem Ehrenmann erwartet wurde, hat der Großvater die Mutter noch vor der Geburt geheiratet und damit den Sohn legitimiert. Doch die Ehe ging ebenso rasch auseinander, wie sie geschlossen wurde – die junge Frau fand einen neuen Liebhaber, Kurt ließ sich scheiden, der Sohn verschwand mit der Mutter aus der Stadt, nur die Alimente verbanden Vater und Sohn miteinander.

       Peer Yolck war ein kleiner, untersetzter Mann, schon bald nahezu kahl, aber er hatte einen bohrenden Blick, der mich stets unsicher machte. Und er war auf seine Weise geschäftstüchtig – mit dem ja nur geringen Gewinn, den er der Yolck Pharma KG verdankte, wusste er an der Börse zu einem gewissen Reichtum zu kommen. Er kleidete sich stets nach neuester Mode, pflegte Kontakt zu anderen Geschäftsleuten, heiratete in eine alteingesessene Hamburger Kaufmannsfamilie ein, die allerdings im Nachkriegsdeutschland wenig Anteil am Wirtschaftswunder hatte. Doch der Name behielt seinen alten Klang und öffnete auch dem Schwiegersohn manche sonst verschlossene Tür. So war er auch in unserer Stadt, die ja stets die verarmte Schwester des groß gewordenen Hamburg war, kein Unbekannter.

       Und dann, einige Monate nach Mamas Tod, als der Vater noch mit dem Schmerz rang, als die Yolck Pharma ziellos dahintrieb und Großvater sein Werk in Gefahr wähnte, kam es zu jener denkwürdigen Sitzung der Gesellschafterversammlung, aus der Vater mit leeren Händen herausging: Peer bewog seinen Vater, Eike Yolck als Geschäftsführer zu entmachten; gemeinsam schlossen sie meinen Vater aus der Gesellschaft aus, nicht einmal als Kommanditist schien er ihnen noch tauglich, nur eine kleine Rente setzten sie dem Gescheiterten aus. Peer aber wurde zum persönlich haftenden Gesellschafter bestellt, übernahm die Führung und das Vermögen der Firma und bald auch unsere Villa.

       Der Vater, willenlos und hilflos, ließ alles geschehen, wie ein Verbannter, ein Aussätziger ließ er sich, kaum fünfzig geworden, in das kleine Zimmer im Stift sperren. Vielleicht hätte er ja wieder zu sich selbst gefunden, wenn die erste Trauer gewichen СКАЧАТЬ