Название: Synthese
Автор: Karoline Georges
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783907336052
isbn:
Nach allem, was man damals hörte, ging die wahre Bedrohung eher von den Haien aus, wie im Film Der weiße Hai, den alle im Autokino gesehen hatten und der in ganz Nordamerika für Albträume sorgte, dabei gab es weiße Haie laut meinem Vater nur in Florida. Es war auch viel von Drogen die Rede, von Heroin vor allem, das in Deutschland jugendliche Prostituierte tötete, sich aber in allen Seitengassen des Planeten verbarg, zwischen den Mülltonnen, in unsichtbaren verrosteten Spritzen, auf die alle kleinen Mädchen in meinem Alter unweigerlich treten und an denen sie augenblicklich sterben würden, noch bevor sie das Leben kennengelernt hatten, laut meinem Großvater, der jetzt, nachdem er sich über dreißig Jahre lang das Hirn weggesoffen hatte, zu den Anonymen Alkoholikern ging.
Auch das Ende der Welt, eingeleitet von einer Atomexplosion, fürchtete man - die einzige der weltweiten Bedrohungen, die auch durch die Gipswände unseres Bungalows eingesickert war. Aber mein Vater glaubte nicht daran. Kirche im Dorf lassen, sagte er. Kein Mensch wäre so verrückt, auf den roten Knopf zu drücken, jeder wüsste doch, dass beide Seiten ihren eigenen roten Knopf hätten, auf den sie drücken könnten. Nach seinem Verständnis hob sich die atomare Bedrohung selbst auf.
Ich hatte also nichts zu fürchten. Eigentlich.
Außer meinem Vater.
Der herumbrüllte, irgendwann würde er meine Mutter noch umbringen oder uns alle oder sich aufhängen oder uns den Kopf abreißen oder die Bude anzünden. Dann erklärte mir meine Mutter, das habe alles nichts zu bedeuten, Dummheiten eines zurückgebliebenen Pubertisten, typische Sprüche von hier, man brauche nicht auf alles zu achten, was er von sich gebe. Auch die Bierflaschen, die er quer durchs Wohnzimmer schmiss, hätten nichts zu sagen. Oder seine fröhlichen Fußtritte, seine schelmischen Kopfnüsse, die es jederzeit ganz spontan hageln konnte, manchmal beim Abendessen, wenn er die Schnauze voll davon hatte, mit uns zusammenzusitzen. Ein Suffkopp eben. Nichts Ernstes. Man solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen.
Vielleicht hätte ich auch lernen können, die Schläge und großmäuligen Beschimpfungen meines Vaters einfach hinzunehmen, ohne etwas dabei zu empfinden. Alles lässt sich lernen; man passt sich an alles an. Das sagte meine Mutter ständig. Aber bevor ich mich für das Schweigen entschied, stellte ich zu viele Fragen. Und von allem, was mich faszinierte, war der Tod sicherlich das größte Geheimnis. Ich wollte begreifen, was wirklich hinter dieser ewigen Drohung meines Vaters steckte und was aus den Opfern des Weißen Hais wurde und aus all den anderen Toten, ob sie nun wegen einer Überdosis Heroin gestorben waren oder wegen einer Atomexplosion. Ich wollte den Tod begreifen, der in allen Fernsehsendungen, allen Filmen und sogar meinen japanischen Lieblings-Animes vorkam.
Jean, der jüngere Bruder meiner Mutter, klärte mich dann freundlicherweise auf, als ich fünf oder sechs war. Ich hatte Menschen im Fernsehen gesehen, die zu schlafen schienen, mit geschlossenen Augen und offenstehendem Mund. Ich sah sie jäh umfallen. Und ich begriff nicht, inwiefern der Schlaf des Todes eine schlimmere Strafe sein konnte als ein Fußtritt. Da nahm sich Jean die Zeit, es mir gut zu erklären. Er fragte mich, ob ich schon mal einen Friedhof gesehen hätte. Das hatte ich, auf dem Bildschirm, mit Gespenstern. Er führte aus, dass Sterben bedeutete, in einer Kiste auf einem Friedhof in der Erde vergraben zu werden. Mit Regenwürmern und Ameisen und Spinnen und noch anderen Insekten, je nach Friedhof. Er sprach von der Winterkälte, wenn der Boden gefriert. Von der Überschwemmung der Kiste, wenn die großen Regenfälle kommen. Er sagte: Wenn du einmal in der Kiste eingeschlossen bist, dann bleibst du für immer da. Das ist der Tod. Und jeder Mensch stirbt irgendwann. Da war mein Onkel fünfzehn oder sechzehn. Er hatte Humor. Und er konnte erzählen; er liebte das Fernsehen genau wie ich. Aber ich glaubte damals, er hätte mir gerade die Wahrheit beigebracht.
Die schlimmste Bedrohung von allen war also das Sterben. Und ich würde ihr nicht entgehen.
Da fingen die richtigen Albträume an.
Die Angststörung generalisierte sich.
Ich saß sowieso schon reglos vor dem Fernseher. Von dem Moment an bin ich wohl vollkommen erstarrt. Ich hatte gesehen, wie meine heißgeliebte Hexe die Menschen ringsum mit einer kleinen Bewegung der Nase fixieren, also die Zeit anhalten konnte, und mir fiel sehr schnell auf, dass die Zeit viel langsamer verging, wenn man überhaupt nichts tat, sich nicht bewegte und, noch besser, den Sekundenzeiger der Uhr anstarrte. Wenn ich mich konzentrierte, kam es mir so vor, als dauerte jede Sekunde drei oder vier Mal so lange. Das erklärte auch die Unsterblichkeit der Bilder, die ja absolut fix waren. Vielleicht lag hier das Geheimnis, wie sich das Sterben vermeiden ließ: jetzt schon reglos werden, aber außerhalb der Kiste unter der Erde.
Ein bisschen entspannen konnte ich schon, kurz nach der Schule, um meine Angststörung in Ordnung zu bringen. Bevor mein Vater irgendwann am Abend zurückkam, betrunken oder schlecht gelaunt, also kurz davor, sich zu betrinken. Während meine Mutter am Fenster rauchte, saß ich vor dem Fernseher, ohne mich zu rühren.
Viele der Figuren auf dem Bildschirm faszinierten mich. Ganz besonders Superheldinnen oder Zauberwesen. Alle überlebensgroß. Zum Beispiel Jaime Sommers, die Sieben-Millionen-Dollar-Frau. Die allererste, die mir Lust machte, einzelne Teile meines Körpers durch Roboterorgane zu ersetzen. Ich träumte davon, selbst auch optimiert zu werden, so schnell laufen zu können, dass sich dadurch die Zeit ringsum verlangsamte. Ungefähr damals entdeckte ich auch Wonder Woman. In jeder Folge verblüffte mich ihre unglaubliche Schönheit von neuem. Darin, dass sie fast nichts hatte, erkannte ich eine fantastische Macht. Wonder Woman brauchte keine Hosen, um sich vor den Dornbüschen zu schützen, keinen Mantel, um den Unbilden des Wetters zu trotzen, ihre seidige Haut war ein lebender Schutzschild.
Doch mein Lieblings-TV-Geschöpf war Bezaubernde Jeannie. Der blonde Geist in seiner rosa Flasche. Auch sie trug ein verführerisches Kostüm, das ihren flachen Bauch zeigte. Damals wusste ich noch nichts von Sex; ich sah in diesen Figuren in Bustier und durchsichtigem Schleier nichts erotisch Aufreizendes, ich war ganz einfach geblendet von ihrer Schönheit. Schon das Rosa von Jeannies Kostüm brachte mich zum Strahlen. Ein paar Töne der Musik im Vorspann, ein paar Bewegungen von Jeannies Zeichentrick-Avatar, und ich vergaß die langen Stunden in der Schule, in denen ich nichts gelernt hatte. Die farbigen Glasfenster der Flasche, in die sie hineinfuhr, und die Kissen aus Samt und Seide um sie herum entrückten mich in eine Dimension aus Opulenz und Pracht pur: Luft zum Atmen. Jeannie hatte so eine Leichtigkeit. Eine Art, alles zum Leuchten zu bringen, folgenlos. Ihre Art zu lieben war unvorstellbar tief. Von dieser Art Liebe hatte ich in der wahren Welt noch nie gehört. So glücklich über den anderen zu sein. Sich so nach ihm zu sehnen. Ich brauchte nur die Augen vom Bildschirm zu heben, wenn meine Mutter durchs Zimmer kam, um von neuem die unendliche innere Leere zu spüren, die sie zerfraß. Plötzlich wurde mir schwindlig. Außerhalb des Fernsehens erschien mir alles bedrohlich, undurchschaubar, zu schwer. Da verspürte ich nur noch ein Bedürfnis: tiefer in den Bildschirm einzudringen.