Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Jesmyn Ward
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Название: Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Автор: Jesmyn Ward

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783956142284

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СКАЧАТЬ während sie ins Leere starrte, die Beine übereinanderschlug, mit dem Fuß wippte und Zigarettenrauch zwischen ihren Lippen hervorquellen ließ, bis er ihren Kopf wie einen Schleier umhüllte, obwohl Mam und Pop es nicht leiden konnten, wenn sie im Haus rauchte. Mit ihr allein zu sein. Sie aschte in eine leere Coladose, die sie gerade ausgetrunken hatte, und machte auch die Kippen darin aus, und als ich in mein Sandwich biss, sagte sie: »Das sieht ja eklig aus.«

      Nach dem Streit mit Michael hatte sie sich die Tränen abgewischt, aber man konnte noch die getrockneten, glänzenden Spuren in ihrem Gesicht sehen.

      »Pop isst das auch immer so.«

      »Musst du Pop alles nachmachen?«

      Ich schüttelte den Kopf, weil sie das zu erwarten schien. Aber die meisten Sachen, die Pop tat, fand ich richtig gut, zum Beispiel die Art, wie er dastand, wenn er redete, die Art, wie er sein Haar kämmte, aus dem Gesicht raus nach hinten, und es mit Gel glatt strich, sodass er wie einer der Choctaw- oder Muskogee-Indianer aus den Büchern aussah, die wir in der Schule lasen, oder dass er mich im Traktor auf seinem Schoß sitzen und hinten auf unserem Grundstück rumfahren ließ, oder seine Art, schnell und sauber zu essen, und natürlich die Geschichten, die er mir vor dem Einschlafen erzählte. Als ich neun war, machte Pop einfach alles richtig gut.

      »Sieht aber ganz so aus.«

      Statt zu antworten, schluckte ich kräftig. Die Kartoffelscheiben waren salzig und dick, die Mayonnaise und der Ketchup zu dünn aufgestrichen, deshalb rutschten die Kartoffeln nicht so gut runter.

      »Hört sich sogar eklig an«, sagte Leonie. Sie ließ ihre Zigarette in die Coladose fallen und schob die Dose dann über den Tisch zu mir rüber. »Wirf das weg.«

      Sie ging aus der Küche ins Wohnzimmer, nahm eins von Michaels Baseball-Caps, das er auf dem Sofa liegen gelassen hatte, und zog es sich tief ins Gesicht.

      »Ich komm bald wieder«, sagte sie.

      Mit dem Sandwich in der Hand trottete ich hinter ihr her. Die Tür schlug zu, und ich stieß sie wieder auf. Willst du mich etwa ganz alleine hierlassen, wollte ich sie fragen, aber das Sandwich saß mir wie ein Kloß im Hals und unterdrückte die Panik, die wie Blasen aus meinem Bauch aufstieg; ich war noch nie allein zu Hause gewesen.

      »Mama und Pop sind bestimmt bald zurück«, sagte sie, bevor sie die Autotür zuschlug. Sie fuhr einen weinroten Chevrolet Malibu, den Pop und Mam ihr zum Highschool-Abschluss gekauft hatten. Leonie fuhr aus der Auffahrt und ließ eine Hand aus dem Fenster baumeln, entweder um sich Luft zuzuwedeln oder um zu winken, schwer zu sagen, und dann war sie weg.

      Irgendwie war mir ganz allein in dem zu stillen Haus unheimlich, deshalb setzte ich mich raus auf die Veranda, aber dann hörte ich einen Mann singen, mit einer hohen Stimme, die ganz falsch klang, und er sang immer wieder den gleichen Text. Oh Stag-o-lee, why can’t you be true? Das war Stag, Pops ältester Bruder, mit einem langen Spazierstock in der Hand. Seine Sachen sahen hart und ölig aus, und er schwenkte den Stock wie eine Axt. Immer, wenn ich ihn traf, ergab das, was er sagte, für mich überhaupt keinen Sinn; es war so, als würde er eine fremde Sprache sprechen, obwohl ich wusste, dass es Englisch war: Jeden Tag lief er in Bois Sauvage herum, sang und schwenkte seinen Stock. Er ging genauso aufrecht wie Pop, wirkte genauso stolz wie Pop. Hatte die gleiche Nase wie Pop. Aber alles andere an ihm war ganz anders als bei Pop, eher so, als hätte man Pop wie einen nassen Lappen ausgewrungen und dann in der falschen Form wieder trocknen lassen. Das war Stag. Einmal hab ich Mam gefragt, was mit ihm los war, warum er immer so nach Gürteltier roch, und sie hat die Stirn gerunzelt und gesagt: Er is nicht ganz richtig im Kopf, Jojo. Und dann: Frag Pop lieber nicht danach.

      Ich wollte nicht, dass er mich sah, darum sprang ich von der Veranda und rannte hinters Haus in den Wald. Es war tröstlich, die Schweine schnüffeln und die Ziegen rupfen und fressen zu hören, die Hühner picken und scharren zu sehen. Ich fühlte mich nicht mehr so klein und allein. Ich hockte mich ins Gras und schaute den Tieren zu, glaubte fast zu hören, wie sie mit mir redeten, wie sie kommunizierten. Manchmal, wenn ich das fette Schwein mit den schwarzen Matschflecken an der Seite anschaute, grunzte es und schlackerte mit den Ohren, und ich dachte, es will mir sagen: Kratz mich hier, Junge. Wenn die Ziegen mir die Hand leckten und mich mit dem Kopf anstubsten, während sie blökend an meinen Fingern knabberten, hörte ich: Das Salz ist so schön scharf und lecker – noch mehr Salz. Wenn das Pferd, das Pop hält, den Kopf neigte und so lange mit den Hufen scharrte und buckelte, bis seine Flanken wie der feuchte rote Mississippi-Lehm glänzten, verstand ich: Ich könnte über deinen Kopf springen, Junge, und ach, dann würde ich losrennen, würde rennen und rennen und wäre nicht mehr zu sehen. Ich könnte dich zum Zittern bringen. Es erschreckte mich, sie zu verstehen, ihnen zuzuhören. Weil Stag das auch tat; Stag stand manchmal mitten auf der Straße und führte lange Gespräche mit Casper, dem schwarz gescheckten Nachbarshund.

      Aber die Tiere nicht zu hören, war unmöglich, denn ich brauchte sie nur anzuschauen, da verstand ich sie schon – es war so, als würde ich einen Satz anschauen und die Wörter verstehen, als würden sie alle auf einmal auf mich einstürmen. Nachdem Leonie weggefahren war, saß ich eine Weile hinten bei den Ställen, hörte den Schweinen und dem Pferd zu und dem Gesang vom alten Stag, der aufbrauste und abflaute wie ein launischer Wind. Ich ging von einem Stall zum anderen, schaute immer wieder zur Sonne hoch, um zu schätzen, wie lange Leonie schon weg war, wie lange Mam und Pop schon weg waren, wie lange es wohl dauern würde, bis sie wiederkamen und ich zurück ins Haus gehen konnte. Ich ging mit hochgerecktem Kopf, lauschte auf das Knirschen von Autoreifen, deshalb sah ich den scharf gezackten Dosendeckel nicht, der vor mir aus der Erde ragte, sah nicht, dass ich im Gehen den Fuß daraufsetzte und instinktiv mein Gewicht verlagerte. Der Deckel sank tief ein. Ich schrie auf, fiel hin, hielt mir das Bein und wusste, dass die Tiere mich in diesem Moment auch verstanden: Lass mich los, großer Zahn! Verschone mich!

      Stattdessen brannte und blutete es, ich saß weinend auf der Pferdelichtung, schmeckte Ketchup und etwas Saures hinten in der Kehle und umklammerte meinen Knöchel. Ich traute mich nicht, den Deckel herauszuziehen, und endlich hörte ich, wie eine Autotür zuschlug, dann erst mal nichts mehr, bis Pops Stimme nach mir rief und ich antwortete und er mich auf der Erde sitzen sah, schluchzend und japsend, ohne mich darum zu scheren, dass mein Gesicht ganz nass war. Pop kam zu mir und fasste mein Bein an, so wie er es bei unserem Pferd immer macht, wenn er das Hufeisen prüft. Mit einem kurzen Ruck zog er den Deckel raus, und ich brüllte laut auf. Das war das erste Mal, dass ich dachte, Pop hat was gemacht, was nicht gut war.

      Als Leonie an dem Abend nach Hause kam, hat sie kein Wort gesagt. Ich glaub nicht, dass ihr mein Fuß überhaupt aufgefallen ist, bis Pop sie anschrie, Verdammt noch mal, Leonie!, verdammt noch mal, immer wieder. Ich war schläfrig von dem Schmerzmittel, kribbelig von dem Antibiotikum, mein Fuß weiß verbunden, ganz fest umwickelt, und sah bloß zu, während Pop mit der flachen Hand an die Wand schlug, um jede Silbe zu unterstreichen: Leonie! Sie zuckte zusammen, wich einen Schritt vor ihm zurück und sagte dann kleinlaut: Du hast in seinem Alter unten bei den Docks Austern geöffnet, und Mam hat Windeln gewechselt. Und dann: Er is alt genug. Sie sagte: Alles okay, oder, Jojo? Und ich guckte sie an und sagte: Nein, Leonie. Das war was Neues für mich: Ihre Hände, die sie ständig rieb, und die schiefen Zähne in ihrem plappernden Mund anzugucken und in meinem Kopf nicht Mama zu hören, sondern ihren Namen: Leonie. Als ich ihn aussprach, lachte sie; der Laut brach aus ihr hervor, als wäre er mit einem harten Spaten herausgehackt worden. Pop sah aus, als würde er ihr gleich eine runterhauen, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er schnaubte nur, so wie er es macht, wenn eine Saat nicht aufgeht oder eine seiner Säue mehr tote als lebendige Ferkel wirft: enttäuscht. Er setzte sich mit mir auf eins der beiden Sofas im Wohnzimmer. Das war die erste Nacht, in der er Mam allein im Bett schlafen ließ. Ich schlief auf dem Zweisitzer, er auf dem großen Sofa, wo er, nachdem Mam immer kränker wurde, schließlich auch blieb.

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