Название: Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts
Автор: Markus Wagner
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Schriften zum Wirtschaftsstrafrecht
isbn: 9783811443020
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Wird der Rechtssetzer aktiv, um eine bestimmte Gestaltung des Rechts vorzunehmen, steht ihm dazu nur das Gesetz (bzw. welche Form von Rechtsakt auch immer) zur Verfügung. Häufig wird er dabei eine konkrete Einzelfrage im Sinn haben; das ändert aber nichts daran, dass sich möglicherweise ein grundlegender Wandel seiner Wertevorstellungen vollzogen hat. Bringt er diesen zum Ausdruck, liegt er aber der gesamten Rechtsordnung zugrunde und nicht nur dem einzelnen Gesetz, weil die gesamte Rechtsordnung als Abbild seines Willens verstanden wird;[233] einzelne Vorschriften stellen nur Symptome des dahinterstehenden Gedankens dar.[234]
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Die logische Unmöglichkeit von Widersprüchen innerhalb einer Rechtsordnung mag folgendes – zugegebenermaßen „kauzig[e]“[235] – Beispiel[236] verdeutlichen:
Beispiel:
Ein chinesisches Gesetz enthält folgende Vorschriften:
§ 1: Jedermann ist verpflichtet, beim Besuch von Maos Grab seinen Hut abzunehmen.
§ 2: Wer bei einem Besuch von Maos Grab den Hut abnimmt, handelt rechtswidrig.
§ 3: Wer bei einem Besuch von Maos Grab den Hut nicht abnimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren bestraft.
§ 4: Wer bei einem Besuch von Maos Grab den Hut abnimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft.
Wären jeweils die §§ 1 und 3 und die §§ 2 und 4 von unterschiedlichen Normgebern erlassen worden, würde man keinen Normwiderspruch proklamieren, sondern sich lediglich fragen, welcher der beiden Normgeber die konkrete Regelungskompetenz besitzt. Der Verdacht eines inneren Widerspruchs ergibt erst aus der Erkenntnis heraus, dass ein und derselbe Normgeber nicht zur selben Zeit ein bestimmtes Verhalten gleichzeitig gewollt und nicht gewollt zu haben scheint.
Auf den ersten Blick mögen die Vorschriften widersprüchlich erscheinen, auf den zweiten Blick jedoch nur unglücklich[237] formuliert: Der Gesetzgeber bringt seinen Willen zum Ausdruck, dass man keine Kopfbedeckungen zu Maos Grab mitbringen darf.[238] Auch das Abnehmen des Hutes beseitigt den Verstoß nicht (§ 2), allerdings wird diese reuige Geste strafmildernd berücksichtigt (§ 4).
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Innerhalb eines Gesetzes – im Sinne eines erlassenen Rechtsakts, nicht im Sinne eines Gesetzbuches, dass durch mehrere historische Rechtsakte geändert wurde – ist der Rechtsinhalt der Normen vergleichsweise einfach freizulegen. Schwieriger kann die Rechtsfindung sich gestalten, wenn (vermeintliche) Widersprüche zwischen verschiedenen Normengebilden auftreten. Konsequent zu der obigen Darstellung muss hier – jedenfalls dem Grundsatz nach – zwangsläufig die zeitliche Reihenfolge der Rechtsakte ausschlaggebend sein: „Ältere Normen sind an den Wertungen heutiger Normen auszurichten.“[239] Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann etwa bestehen, wenn zwar eine Grundregel geändert wird, eine diesbezügliche schon vorher bestehende Ausnahme aber bestehen bleiben soll. In diesem Falle sind die neuen Vorschriften genau daraufhin zu untersuchen, in welche Richtung der Wille des rechtssetzenden Organs gezielt hat. Es zeigt sich also, dass die Grundsätze lex posterior derogat legi anteriori und lex specialis derogat legi generali auch dann Anwendung finden, wenn man von einer im Recht vorfindlichen Einheit ausgeht. Sie stellen sich dann aber nicht mehr als Rechtsschöpfungsmethoden, sondern als Auslegungsmethoden dar, die in erkennender Weise – den Naturwissenschaften nicht unähnlich – dem Rechtsanwender ermöglichen, den Schritt, den das Recht von selbst beschreitet, nachzuvollziehen und somit eine Subsumtionsgrundlage herzustellen.
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Überträgt man diese rechtstheoretischen Gedanken auf die Bundesrepublik Deutschland – konkreter: auf die Bundesrechtsordnung in Gestalt der formellen Bundesgesetze – ergibt sich folgendes Bild: Im demokratischen Staat (Art. 20 Abs. 1 GG) geht alle Staatsgewalt und damit auch die gesetzgebende Gewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Dies erfolgt durch regelmäßige Übertragung für einen begrenzten Zeitraum an die dafür vorgesehenen Organe; es handelt sich um das System parlamentarischer Demokratie.
Damit stellen sich für die Übertragbarkeit des oben dargelegten Modells mehrere Probleme: Zum einen wird nicht der Wille des gesamten Volkes abgebildet, weil die politische Linie der Organe lediglich die Mehrheit abbildet. Dass ein wirklich einheitlicher Wille über alle bestehenden sozialen und kulturellen Unterschiede hinaus besteht, ist zudem zu bezweifeln. Zum anderen handelt es sich bei den Organwaltern auch um Menschen, die psychologisch gesehen ihren eigenen Willen bilden, der zudem regelmäßig nicht von der Absicht der Vereinheitlichung des Rechts, sondern von politischen Opportunitäten getragen ist.[240] Diese Punkte wurden bereits von Hans Kelsen als Kritik an der Lehre Georg Jellineks,[241] der soziologische Einwand ebenfalls von Eugen Ehrlich[242] vorgetragen. Hinzu kommt unter der Ägide des Grundgesetzes, dass gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG jedenfalls die Abgeordneten des Bundestages nicht an einen tatsächlich festgestellten Volkswillen gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen sind;[243] diese Wertung kann auch auf die übrigen Staatsorgane übertragen werden.[244]
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Doch selbst diese kritischen Literaturstimmen räumen die Richtigkeit des Grundgedankens einer die Einheit des Rechts bildenden Einheit des Rechtssetzers auch in der repräsentativen Demokratie ein: Handelt es sich für den Rechtssoziologen Eugen Ehrlich zwar nur um ein anzustrebendes Ideal,[245] weist Kelsen darauf hin, dass es nicht auf einen sozialpsychologischen Willensbegriff ankommen könne, sondern nur auf einen juristisch-normativen:[246] Die Handlungen der Staatsorgane stellen sich gerade nicht als ihre eigenen Willensäußerungen dar, sondern werden dem Staat – bzw. dem Träger der Staatsgewalt – zugerechnet, soweit Normen dies vorsehen. Dies ist der Fall, wenn sie in Handlungsformen des Staates tätig werden, z.B. durch Rechtssetzung. Aus dem Ergebnis dieses Zurechnungsvorgangs bildet sich dann aber ein (nicht-psychologischer) „Staatswille“. In der repräsentativen Demokratie ist dieser Staatswille der Volkswille. Das kommt auch in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zum Ausdruck, wonach die Abgeordneten des Bundestages als „Vertreter des Volkes“ fungieren. Das Grundgesetz sieht nur die Existenz eines Volkes vor, wie die Präambel sowie Art. 1 Abs. 2 GG, 20 Abs. 2 S. 1, 146 GG deutlich machen,[247] weshalb das Ergebnis der Zurechnung eine Einheit bilden muss, da der eine Volkswille auf eine Frage nur eine Antwort geben kann.
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Da das Volk als Träger der Staatsgewalt und damit auch der Rechtssetzung „zeitlos“[248] ist, wird die Einheitlichkeit der Rechtssetzung auch nicht durch eine Diskontinuität der Repräsentanten des Volkes durchbrochen. Ein „neuer“ Gesetzgeber kann die bereits bestehenden Normen abändern oder aufheben,[249] da die Zurechnung an die dieselbe Instanz erfolgt, stellt die neue Rechtslage sich nur als aktualisierter Wille desselben Rechtssetzers und nicht als neuer Wille eines anderer Rechtssetzers dar. Soweit die neuen Repräsentanten sich zu einem bestimmten Sachgebiet noch nicht im Wege der Rechtsordnung geäußert haben, bleiben die bisherigen Normen samt der ihnen inne wohnenden politischen Überzeugungen bestehen, selbst wenn diese nicht von den neuen Repräsentanten geteilt werden. Wird aber eine Wertung im Normgefüge verändert, durchdringt diese Änderung auch das bislang vorfindliche Normensystem.
(2) Die Einheit der Rechtsordnungen im Mehrebenensystem
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Auf dieselben Grundsätze lässt sich auch im Mehrebenensystem zwischen Ländern, Bund und Europäischer Union zurückgreifen, soweit der Träger СКАЧАТЬ