Название: Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen
Автор: Thomas Müller J.J.
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783846355787
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Welches sind wirksame Maßnahmen außerschulischer Erziehungshilfe?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:
Was macht sonderpädagogische Institutionen, die nach außen hin einen separierenden Charakter haben, für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche möglicherweise zu integrativen Einrichtungen?
Warum werden sonderpädagogische Einrichtungen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung vermutlich auch in Zukunft unentbehrlich sein?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.
Grundlagenliteratur:
Macsenaere, M., Esser, K. (2015): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Ernst Reinhardt, München
2.4 Integration und Inklusion
Mit der UN-Konvention von 2008 nahm die kritische Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der Schulen für Erziehungshilfe zu. Dennoch hat sich die Zahl der in diesen Schulen geförderten Schülerinnen und Schüler zwischen 2001 und 2018 nahezu verdoppelt (KMK 2019b) und steigt weiter an. Aber auch Versuche integrativer Beschulung (z. B. regelschulintegrierte Klassen, Kooperationsklassen, ambulante und mobile Dienste und Hilfen, dezentrale schulische und außerschulische Erziehungshilfen, etc.) wachsen (s. thematische Skizze 4).
Thematische Skizze 4: Integration und Inklusion
„Der Weg zur Inklusion im Bereich der schulischen Erziehungshilfe wird dahinführen, bestehende Systeme weiter zu entwickeln, die sich fortsetzende Ausdehnung der separierenden Beschulung zu stoppen, zu reduzieren und inkludierende Förderformate auszuweiten […]. Ziel ist es, gestufte Fördersysteme mit differenzierten Ansätzen und intensiver Vernetzung v. a. mit der Jugendhilfe, flächendeckend zu etablieren […]“ (Willmann 2007, 130).
Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche sind oft vielfältigen Exklusionserfahrungen ausgesetzt: dazu zählen massive Konflikte in der Familie ebenso wie im häuslichen Umfeld, in Kindergarten oder Schule. Diese Erfahrungen sind bisweilen tiefgreifend und führen bei ihnen selbst, aber auch in ihrem Umfeld vielfach zu Leid und Trauer, auch wenn es angesichts von Wutausbrüchen, Übergriffen und zerstörerischem Verhalten auf den ersten Blick nicht danach aussieht. Die Biographien der Betroffenen belegen dies jedoch „eindrucksvoll“ (Nölke 1994; Ader / Schrapper 2002; Hamberger 2008; Goblirsch 2010).
Die Schule, aber auch ein erheblicher Teil der Hilfemaßnahmen zur Erziehung sind so organisiert, dass sie auf ein gewisses Maß an Gruppenfähigkeit setzen. Es gibt jedoch Kinder und Jugendliche, die durch ihre biographischen Erfahrungen emotional und sozial so hoch belastet sind, dass sie nur wenige oder kein anderes Kind neben sich ertragen. Jenseits von zunehmender Professionalisierung im Bereich der allgemeinbildenden Schulen wird es daher auch weiterhin schulische Maßnahmen benötigen, die solchen Bedarfen gerecht werden. Darüber hinaus wäre es fahrlässig anzunehmen, dass jede Verhaltensweise eine Bereicherung innerhalb einer Klasse darstellt, besonders, wenn es zu gewalttätigen oder sexuell motivierten Übergriffen, selbstverletzendem Verhalten und Delinquenz kommt. In der Diskussion um Inklusion wird bisweilen aber ein zu idealistisches Bild vermittelt:
„Es scheint so, als träfen ausschließlich Schüler aufeinander, die guten Willens sind, bereit und in der Lage, sich miteinander zu verständigen. Auftretende Probleme sollen mit den gängigen pädagogischen Mitteln gelöst werden, eventuell unterstützt durch sonderpädagogische Hilfen. Aggressivität und Destruktivität, die diesen gemeinsamen Rahmen sprengen, haben im Normalitätstheorem keinen Platz, Grenzen einer fruchtbringenden Vielfalt kommen nicht vor“ (Ahrbeck 2011, 65).
Die Inklusionsdebatte sollte nicht den Eindruck erwecken, als sei das Miteinander von unterschiedlichen Menschen in der Verbindung zu einer Lerngemeinschaft grundsätzlich gut. Die Zunahme des emotional-sozialen Förderbedarfs (KMK 2020) sowie die Tatsache, dass etwa ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen an einer psychischen Störung erkranken (Hölling et al. 2008), lässt den Schluss zu, dass es eine intensive Unterstützung aller Schularten benötigt, besonders dann, wenn sie sich den Herausforderungen eines inklusiven Unterrichts stellen. Im Sinne der Kinder und Jugendlichen, die niemanden neben sich aushalten (können) und im Sinne derer, die es vor Übergriffen zu schützen gilt, werden spezielle Schulen auch in Zukunft unerlässlich sein. Wo diese Schulen abgeschafft werden, droht die Gefahr, dass verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche eine „In-klusion“ der anderen Art erleben: nämlich Einschluss in Psychiatrien, Forensiken und Justizvollzugsanstalten.
„Inklusion verwirklicht sich also nicht unbedingt mit dem Verbleib von störenden, auffälligen oder schwierigen Kindern und Jugendlichen an Regelschulen, genauso wenig wie die Schule zur Erziehungshilfe als Allheilmittel gelten kann. […] Ziel bleibt es, diesen Kindern und Jugendlichen Stabilität und Verlässlichkeit, Kontinuität und Orientierung, Wertschätzung und Anerkennung anzubieten, wie auch immer man die Schulen, die das realisieren können, systemisch verorten mag“ (Müller 2013, 43).
Aktuell steht die Pädagogik bei Verhaltensstörungen vor zwei großen Herausforderungen: dem „wait-to-fail-Problem“ und dem „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“. In vielen Fällen wird mit sonderpädagogischen Interventionen solange gewartet, bis das Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen in der Regelschule nicht mehr tragbar ist. Oftmals haben sich Verhaltensweisen dann manifestiert und lassen sich auch durch gezielte Maßnahmen nicht mehr in den Griff bekommen, was im schlimmsten Fall zu späten Schulwechseln, aber auch Abbrüchen ohne Abschluss führt. Daher befasst sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen explizit mit Fragen der Prävention sowie der Wirksamkeit eingesetzter Maßnahmen (z. B. Hartke / Koch 2008; Hennemann et al. 2015), auch wenn damit Erziehungsprozesse nicht abgelöst werden können (Stein / Müller 2018, 258). Damit einher geht das Dilemma, dass Ressourcen für eine sonderpädagogische Intervention erst dann zur Verfügung gestellt werden, wenn eine Störung im Verhalten und / oder Erleben diagnostiziert wurde. Dies erfordert zum einen Zeit, in der sich Verhaltensweisen verfestigen können und leidvolle Erfahrungen vergrößern. Es bringt zum anderen das Problem mit sich, die Betroffenen ggf. zu stigmatisieren, selbst wenn dies nicht beabsichtigt ist (Kap. 4.3.4). Förderbedarfe aus Angst vor Stigmatisierung jedoch nicht mehr festzustellen, bringt wiederum die Gefahr mit sich, dass (existentiell) notwendige Hilfe, Unterstützung und Begleitung ggf. nicht realisiert werden können. Es bleibt zu überlegen, ob im Sinne einer advokatorischen Ethik, jenseits von paternalistischen Absichten, nicht genau dies das immer wieder zu reflektierende Wagnis ist, welches die Pädagogik bei Verhaltensstörungen einzugehen hat.
Mit Blick auf eine inklusive Zukunft hat die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ihre Professionalität in mindestens drei Handlungsfelder einzubringen:
● Zum einen gilt es, eine präventive pädagogische Praxis in der Elementarbildung auszubauen,
● zum zweiten eine integrative und inklusive pädagogische Praxis an Regelschulen weiterzuentwickeln, ohne Exklusion in der Inklusion zu erzeugen,
● und zum dritten geht es um den Erhalt sonderpädagogischer, schulischer und außerschulischer Intensivangebote sowie ihre Weiterentwicklung im Hinblick auf Aufenthaltszeiten, Durchlässigkeit und Übergänge, aber auch konzeptionelle Qualitäten.
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