Название: Hiob. Roman eines einfachen Mannes
Автор: Йозеф Рот
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159618951
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»Nein«, sagte Jonas, »ich will gar nicht freikommen! Ich bleibe bei den Soldaten!«
Alle murmelten das Nachtgebet. Schweigsam entkleideten sie sich. Dann ging Mirjam im Hemd und auf koketten Zehen zur Lampe und pustete sie aus. Sie legten sich schlafen.
*
Am nächsten Morgen war Jonas verschwunden. Sie suchten nach ihm, den ganzen Vormittag. Erst am späten Abend erblickte ihn Mirjam. Er ritt einen Schimmel, trug eine braune Joppe und eine Soldatenmütze.
»Bist du schon Soldat?«, rief Mirjam.
»Noch nicht«, sagte Jonas und hielt den Schimmel an. »Grüß’ Vater und Mutter. Ich bin bei Sameschkin, vorläufig, bis ich einrücke. Sag’, ich konnte es nicht bei euch aushalten, aber ich hab’ euch alle ganz gern!«
Er ließ daraufhin eine Weidengerte pfeifen, zog an den Zügeln und ritt weiter.
Von nun an war er Pferdeknecht beim Fuhrmann Sameschkin. Er striegelte den Schimmel und den Braunen, schlief bei ihnen im Stall, sog mit offenen genießenden Nasenlöchern ihren beizenden Urinduft ein und den sauren Schweiß. Er besorgte den Hafer und den Tränkeimer, flickte die Koppeln, beschnitt die Schwänze, hängte neue Glöckchen an das Joch, füllte die Tröge, wechselte das faule Heu in den zwei Fuhren gegen trockenes aus, trank Samogonka mit Sameschkin, war betrunken und befruchtete die Mägde.
Man beweinte ihn zu Hause als einen Verlorenen, aber man vergaß ihn nicht. Der Sommer brach an, heiß und trocken. Die Abende sanken spät und golden über das Land. Vor der Hütte Sameschkins saß Jonas und spielte Ziehharmonika. Er war sehr betrunken und er erkannte seinen eigenen Vater nicht, der manchmal zögernd vorbeischlich, ein Schatten, der sich vor sich selbst fürchtet, ein Vater, der nicht aufhörte zu staunen, dass dieser Sohn seinen eigenen Lenden entsprossen war.
V
Am zwanzigsten August erschien bei Mendel Singer ein Bote Kapturaks, um Schemarjah abzuholen. Alle hatten den Boten in diesen Tagen erwartet. Als er aber leibhaftig vor ihnen stand, waren sie überrascht und erschrocken. Es war ein gewöhnlicher Mann von gewöhnlichem Wuchs und gewöhnlichem Aussehn, mit einer blauen Soldatenmütze auf dem Kopf und einer dünnen gedrehten Zigarette im Mund. Als man ihn einlud, sich zu setzen und einen Tee zu trinken, lehnte er ab. »Ich will lieber vor dem Haus warten«, sagte er in einer Art, an der man erkennen musste, dass er gewohnt war, draußen zu warten, vor den Häusern. Aber gerade dieser Entschluss des Mannes versetzte die Familie Mendel Singers in noch hitzigere Aufregung. Immer wieder sahen sie den blau bemützten Mann wie einen Wachtposten vor dem Fenster erscheinen, und immer heftiger wurden ihre Bewegungen. Sie packten Schemarjahs Sachen ein, einen Anzug, Gebetriemen, Reiseproviant, ein Brotmesser. Mirjam holte die Gegenstände herbei, immer mehr schleppte sie heran, Menuchim, der bereits mit dem Kopf bis zum Tisch reichte, reckte neugierig und stupide das Kinn und lallte unaufhörlich das eine Wort, das er konnte: Mama. Mendel Singer stand am Fenster und trommelte gegen die Scheibe. Deborah weinte lautlos, eine Träne nach der anderen schickten ihre Augen zu dem verzogenen Mund. Als Schemarjahs Bündel fertig war, erschien es allen viel zu kümmerlich, und sie suchten mit hilflosen Augen das Zimmer ab, um noch irgendeinen Gegenstand zu entdecken. Bis zu diesem Augenblick hatten sie nichts miteinander gesprochen. Jetzt, da das weiße Bündel neben dem Stock auf dem Tisch lag, wandte sich Mendel Singer vom Fenster ab und der Stube zu und sagte zu seinem Sohn: »Du wirst uns sofort und so schnell wie es dir möglich ist, Nachricht zukommen lassen, vergiss es nicht!« Deborah schluchzte laut auf, breitete die Arme aus und umfing ihren Sohn. Lange umklammerten sie sich. Dann löste sich Schemarjah gewaltsam los, schritt auf seine Schwester zu und küsste sie mit knallenden Lippen auf beide Wangen. Sein Vater breitete die Hände segnend über ihn und murmelte hastig etwas Unverständliches. Furchtsam näherte sich darauf Schemarjah dem glotzenden Menuchim. Zum ersten Mal galt es, das kranke Kind zu umarmen, und es war Schemarjah, als hätte er nicht einen Bruder zu küssen, sondern ein Symbol, das keine Antwort gibt. Jeder hätte gerne noch etwas gesagt. Aber keiner fand ein Wort. Sie wussten, dass es ein Abschied für immer war. Im besten Fall geriet Schemarjah heil und gesund ins Ausland. Im schlimmsten Fall wurde er an der Grenze gefangen, dann hingerichtet oder von den Grenzposten an Ort und Stelle erschossen. Was soll man einander sagen, wenn man Abschied fürs Leben nimmt?
Schemarjah schulterte das Bündel und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Er sah sich nicht mehr um. Er versuchte, in dem Augenblick, in dem er über die Schwelle trat, das Haus und alle seine Angehörigen zu vergessen. Hinter seinem Rücken ertönte noch einmal ein lauter Schrei Deborahs. Die Tür schloss sich wieder. Mit dem Gefühl, dass seine Mutter ohnmächtig hingestürzt sei, näherte sich Schemarjah seinem Begleiter. »Gleich hinter dem Marktplatz«, sagte der Mann mit der blauen Mütze, »erwarten uns die Pferde.« Als sie an Sameschkins Hütte vorbeikamen, blieb Schemarjah stehn. Er warf einen Blick in den kleinen Garten, dann in den offenen leeren Stall. Sein Bruder Jonas war nicht da. Einen wehmütigen Gedanken hinterließ er dem verlorenen Bruder, der sich freiwillig geopfert hatte, wie Schemarjah immer noch glaubte. »Er ist ein Grobian, aber edel und tapfer«, dachte er. Dann ging er mit gleichmäßigen Schritten an der Seite des Fremden weiter.
Gleich hinter dem Marktplatz trafen sie die Pferde, wie der Mann gesagt hatte. Nicht weniger als drei Tage brauchten sie, bis sie zur Grenze kamen, denn sie mieden die Eisenbahn. Es erwies sich unterwegs, dass der Begleiter Schemarjahs genau Bescheid im Lande wusste. Er gab es zu erkennen, ohne das ihn Schemarjah gefragt hätte. Auf die fernen Kirchtürme deutete er und nannte die Dörfer, zu denen sie gehörten. Er nannte die Gehöfte und die Güter und die Namen der Gutsbesitzer. Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sich auf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte er Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann auszog, eine neue zu suchen. Er säte das Heimweh fürs ganze Leben in das Herz Schemarjahs.
Eine Stunde vor Mitternacht kamen sie zur Grenzschenke. Es war eine stille Nacht. Die Schenke stand in ihr als einziges Haus, ein Haus in der Stille der Nacht, stumm, finster, mit abgedichteten Fenstern, hinter denen kein Leben zu ahnen war. Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst störte sie keine Stimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet runden tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einen hellen Streifen unterbrochen war, wie ein blauer Ring von einem Stück eingefassten Silber. Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, die sich im Westen ausbreiteten, und den langsamen Wind, der sie herübertrug. »Eine schöne echte Sommernacht!«, sagte der Bote Kapturaks. Und zum ersten Mal, seitdem sie zusammen waren, ließ er sich herbei, von seinem Geschäft zu sprechen: »Man kann in so stillen Nächten nicht immer ohne Schwierigkeiten hinüber. Für unsere Unternehmungen sind Regen nützlicher.« Er warf eine kleine Angst in Schemarjah. Da die Schenke, vor der sie standen, stumm und geschlossen war, hatte Schemarjah nicht an ihre Bedeutung gedacht, bis ihn die Worte des Begleiters an sein Vorhaben erinnerten. »Gehen wir hinein!«, sagte er, wie einer, der die Gefahr nicht länger aufschieben will. »Brauchst dich nicht zu eilen, wir werden lange genug warten müssen!«
Er trat dennoch ans Fenster und klopfte leise an den hölzernen Laden. Die Tür öffnete sich und entließ einen breiten Strom gelben Lichts über die nächtliche Erde. Sie traten ein. Hinter der Theke, genau im Lichtkegel einer Hängelampe, stand der Wirt und nickte ihnen zu, auf dem Fußboden hockten ein paar Männer und würfelten. An einem Tisch saß Kapturak mit einem Mann in Wachtmeisteruniform. Niemand sah auf. Man hörte das Klappern der Würfel und das Ticken der Wanduhr. Schemarjah setzte sich. Sein Begleiter bestellte zu trinken. Schemarjah trank einen Schnaps, er wurde heiß, aber ruhig. Sicherheit fühlte er wie noch nie; er wusste, dass er eine der seltenen Stunden erlebte, in denen der Mensch an seinem Schicksal nicht weniger zu formen hat, als die große Gewalt, die es ihm beschert.
Kurz nachdem die Uhr Mitternacht geschlagen hatte, knallte ein Schuss, hart und scharf, mit einem langsam verrinnenden Echo. Kapturak und der Wachtmeister СКАЧАТЬ