Название: Wie Bildung gelingt
Автор: Harald Lesch
Издательство: Автор
Жанр: Социальная психология
isbn: 9783534746996
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Forstner: Wem sagst du das!
Lesch: Und man merkt, es gibt einen Konsens unter allen. Zum Beispiel die Sache mit der Zeit, dass man Kindern Zeit lassen muss. Aber in dem System ist es genau andersherum: Die kommen da rein, und dann ist festgelegt, was läuft, und zwar ohne Wenn und Aber. Besonders schlimm wurde es dann, als es auch noch beschleunigt wurde. Als man angefangen hatte, so richtig Gas zu geben. Da hatte ich erst mal ein logisches Problem damit, weil ich auf der einen Seite in den Statistiken hörte, wir werden immer älter, die Lebenserwartung wird immer größer. Und gleichzeitig beschleunigen wir die Schule und für die einen oder anderen dann sogar den Universitätszugang. Ja, warum denn bloß?
Forstner: Um immer früher fertig zu werden …
Lesch: Ja, genau!
Forstner: … für den Arbeitsmarkt letztlich.
Lesch: Warum denn bloß? Um dann wieder nach ein paar Jahren von zum Beispiel industrieller, also ökonomischer Seite zu hören: »Die Leute, die wir da kriegen, die haben ja gar keine Lebenserfahrung!« Also, wie soll man Lebenserfahrung machen, wenn man keine Lebenserfahrung machen darf? Und Schule soll ja auch darauf vorbereiten, mit Lebenserfahrung umzugehen. Sie soll eine Persönlichkeit so bilden, dass sie aus sich heraus, also aus ihren inneren Motiven heraus mit der Welt umgeht: Eine Person sollte wissen, wo sie herkommt, also die Tradition der eigenen Kultur kennen. Sie sollte aber auch wissen, dass die eigene Herkunft rein zufällig ist, sie hätte auch ganz woanders auf die Welt kommen können. Und sie sollte erkennen, was wichtig und was nicht wichtig ist: Prioritätensetzung! Das muss man ja alles erfahren, und nicht: Da, das ist jetzt das Wichtigste, schreib das mal auf!
Forstner: Das steht auch alles nicht wirklich im Lehrplan.
Lesch: Genau! Und ich fand, dass die Thesen von Whitehead genau darauf abzielen, einen »lebensfähigen« Menschen aus der Schule zu entlassen, der in der Lage ist, lebensweltlich vernünftig zu handeln. Als ich das zum ersten Mal las, dachte ich: Der hat in mein Hirn geguckt, ich hab’s nur nicht gewusst.
Forstner: Das kann Whitehead gut, die Themen, die in einem immer schon rumoren, auf den Punkt zu bringen. Auch wenn man ihm eigentlich vorwirft, dass er nicht besonders gut mit Sprache umgehen konnte, ich habe es immer anders empfunden.
Lesch: Ja, es ging mir mit Whitehead so: Ich wusste genau, was er sagt; ich verstand ihn nicht immer, aber das, was zwischen den Zeilen steht, sein Motiv, das schien mir auch mein Motiv zu sein. Und Bildung halte ich für eines der wichtigsten Themen. Ich glaube, dass Bildung und Gerechtigkeit ganz wichtige Stützpfeiler einer jeden Gesellschaft sind, insbesondere einer Gesellschaft, die so sehr unter technologischem, ökologischem Einfluss und Druck steht wie die westliche. Wenn es uns nicht gelingt, unsere jungen Leute wirklich ernst zu nehmen und ihnen zu helfen, so heranzuwachsen, dass sie immer noch und hoffentlich auch immer besser und nachhaltiger mit dieser ständig komplizierter und komplexer werdenden Welt umgehen können, dann weiß ich nicht, ob uns eine gedeihliche Zukunft für alle erwartet. Allein die »Mount Everests« Klimawandel und Energiewende, aber auch der zunehmende Einfluss der digitalen Technologien in Hard- und
Software sind gewaltige Herausforderungen, vor denen die nächsten Generationen stehen. Niemand ist geübt darin, in solche Höhen zu gehen und wir, also meine Generation, sind den steilen Weg zu einem zufriedenstellenden Umgang mit der immer drängender werdenden Bedrohung und zu Lösungen und Anpassungen nicht gegangen. Aber unsere Kinder und Enkel werden in diese Höhen gehen müssen, vielleicht sogar ohne Sauerstoffmaske. Und da möchte ich auf jeden Fall, dass sie die inneren Kräfte besitzen, um vor solchen Herausforderungen nicht zu kapitulieren. Eine Form der Kapitulation ist der Weg in nationalistische Abgrenzungsparteien, die einfach behaupten, es gäbe den Klimawandel nicht, und deshalb könne man einfach so weitermachen wie bisher. Aber auch diejenigen, die meinen, man sollte sich der Digitalisierung als einer völlig alternativlosen Entwicklung widerstandslos hingeben, sollten durch entsprechende Regulierungsmaßnahmen eingehegt und gebändigt werden. Für den Zustand einer liberalen, offenen demokratischen Gesellschaft ist es ganz wichtig, an die Verantwortung des Einzelnen, quasi an seine moralische Substanz zu erinnern, die die Grundbedingung für eine funktionierende, freiheitlich demokratische Grundordnung darstellt. Für mich hat es am deutlichsten der deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«12 Das ist das Wagnis der Freiheit, das er eingehen muss. Ansonsten wird er zum totalitären Staat. Dazu, dieses Wagnis einzugehen, gehört nicht nur Mut, sondern auch die Souveränität – dass man weiß, wofür man steht als Demokratin und Demokrat. Und zu einer erfolgreichen Demokratie gehören moralisch handelnde, aufgeklärte Individuen, mit anderen Worten: gebildete Menschen. Deswegen halte ich das Thema Bildung für eins der wichtigsten Themen, die es überhaupt gibt.
Und Whitehead?
Forstner: Und Whitehead stand für uns eigentlich immer fest, nicht!?
Lesch: Ja, klar!
Forstner: Wollen wir dazu noch ein paar Sätze verlieren? Weil Bildung für viele – und wahrscheinlich für alle, die Kinder haben – ganz selbstverständlich ein Thema ist. Aber warum Whitehead?
Lesch: Weil Whitehead jemand ist, der Fragen stellt und Probleme thematisiert, ohne sie direkt anzusprechen. Er hilft uns, Hoffnung zu behalten. Er hilft uns, aus der Vergangenheit genauso zu lernen, wie eine Zukunft zu erwarten, wo noch etwas möglich ist. Whitehead ist für mich wirklich ein Hoffnungsträger! Er trägt in seiner Prozessmetaphysik immer die Möglichkeit des Neuen mit, und er sieht den Menschen als ein Initium, als einen Anfang. Denn jeder Mensch ist für ihn immer wieder ein Anfang. Und deswegen kann er auch Initiative ergreifen. Er kann von sich aus etwas Neues schaffen. In der europäischen Philosophie war dagegen bis zur Aufklärung Philosophie die Kunst zu sterben, ars moriendi: »Man ziehe sich zurück und lasse alle Welt los …« Nicht so Whitehead! Er ist einer, der mitten im Leben steht, ihn interessiert die ars vivendi, die Kunst des Lebens. Einer, der dann auch weitermacht, einer, der sieht, dass es weitergehen wird. Er ist ein Hoffnungsträger!
Forstner: Er bleibt auch immer Optimist … durch zwei Weltkriege hindurch und immer …13
Lesch: Er hat einiges erlebt, genau, und da Optimist zu bleiben, gerade bei diesen katastrophalen Entwicklungen, bei denen er mit dabei war … Ich muss es einfach noch mal sagen: White-head ist ein Hoffnungsträger! Es gibt von Tomáš Halík, einem tschechischen Theologen, einen wunderschönen Ausspruch des Inhalts: »Hoffnung ist eine Art der Geduld mit Gott. Glaube, Liebe und Hoffnung sind drei Arten der Geduld mit Gott.«14
Forstner: Das ist schön.
Lesch: Und Halík sagt dann weiter, dass die Atheisten nur einfach noch nicht genügend Geduld mit Gott haben. Ich glaube, Whitehead hatte unglaublich viel Geduld, mit den Menschen und mit Gott. Er hatte vielleicht nicht genügend Geduld mit sich, um Dinge so zu formulieren, dass man sie auch wirklich, ich will mal sagen »relativ schnell« versteht, nachdem man sie gelesen hat, um nicht zu sagen »sofort«.
Forstner: СКАЧАТЬ