Название: Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie
Автор: Tibor Zenker
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Die neuen Fälle des Sherlock Homes / Von Tibor Zenker
isbn: 9783990015032
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Dann aber wurde mir die gesamte Tragweite des Plans bewusst: Es handelte sich um ein Sprengstoffattentat auf den Trauerzug! Mit einem Schlag hätte man die nunmehr höchste Autorität der internationalen sozialistischen Bewegung, Herrn Engels, sowie die führenden Köpfe der deutschen und internationalen Sozialdemokratie beseitigt. Wie aber konnte der Sprengstoff unter mir zur Detonation gebracht werden? Nur durch eine zweite, kleinere Explosion, die sodann für die Dynamitstangen als unmittelbare Initialzündung dienen würde. Das Ergebnis wäre ein Inferno, das kaum einer der Trauergäste, darunter auch Holmes, wie mir nun bewusst wurde, überleben würde. Ich war dabei lediglich ein Kollateralschaden.
Doch wo würde diese Explosion erfolgen? Mein Gehirn arbeitete intensiv. Es musste ein Ort sein, an dem der Trauerzug eng zusammenrückt, an dem aber auch die Möglichkeit einer unbeobachteten Zündung bestand. Dafür gab es auf dem Friedhof nur eine geeignete Stelle: Auf dem Weg vom Haupttor zur Grabstelle auf der Ostseite musste der Zug durch den Tunnel unter der Swain’s Lane. An seinem Ende würde die auslösende Detonation erfolgen, woraufhin auch das Dynamit im Sarg explodieren würde. Die dahinter gehende Gruppe hätte keine Chance. Immerhin – ich würde wenigstens nicht lebendig begraben werden.
Der Wagen mit meinem Sarg rollte unaufhaltsam weiter über den holprigen Friedhofsweg. Als ich bemerkte, dass sich bei mir langsam defätistische Gleichgültigkeit breitmachte, wurde mir klar, dass der Sauerstoff zur Neige ging. Offenbar waren Seelenfrieds hochwertige Särge sogar luftdicht.
Ich mobilisierte nochmals alle verfügbaren Kräfte und stieß mit den Schuhspitzen meiner zusammengebundenen Füße gegen den Sargdeckel. Einmal, zweimal, dreimal. Ich warf mich verzweifelt hin und her, um gegen die Seitenwände zu prallen. Ich klopfte mit den Kniescheiben gegen die Abdeckung, schließlich sogar mit meiner Stirn.
Und endlich blieb der Wagen stehen. Stimmen waren zu vernehmen, dann wurde von außen an den Sargdeckel geklopft. Ich antwortete mit letzter Kraft und einem heftigen Stoß mit meinen Füßen. Die Stimmen wurden lauter und aufgeregter, dann wurde am Sarg geschraubt. Schließlich, nach einer weiteren halben Minute, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, öffnete endlich jemand den Deckel – ich war niemals zuvor so froh gewesen, das Gesicht von Holmes zu sehen.
Er nahm mir sofort den Knebel ab, woraufhin ich wieder durchatmen konnte. Mit Holmes Hilfe richtete ich den Oberkörper auf, drehte mich um und sah, dass wir keine 20 Yards mehr vom Tunnel entfernt waren. Es war höchste Zeit gewesen.
»Holmes«, keuchte ich, »am hinteren Ende des Tunnels verbergen sich Attentäter, mindestens zwei.«
Dann sank ich wieder auf die samtene Liegefläche des Sarges zurück und verlor abermals das Bewusstsein.
***
Was unmittelbar danach geschah, erfuhr ich nur aus Erzählungen: Während Herr Engels für meinen Transport ins Spital sorgte, kletterten Holmes, Liebknecht und die drei Schwiegersöhne von Marx über die Mauern in den Ostteil des Friedhofes. So umgingen sie den Tunnel und überraschten die lauernden Attentäter, die tatsächlich nur zu zweit waren, von hinten. Angesichts der Übermacht und Holmes’ Revolver leisteten sie keinen Widerstand. Als sie sich als Angehörige der deutschen Geheimpolizei zu erkennen gaben, ließ es sich Liebknecht nicht nehmen, beiden eine pädagogische Ohrfeige zu erteilen – mit konspirativrevolutionären Grüßen an Kaiser und Kanzler in Berlin.
Dass sie diese auch überbringen können würden, stand außer Frage. Zwar übergab Holmes die beiden der Londoner Polizei, doch wie es im internationalen Spionagegeschäft üblich war, wurden sie wenig später gegen zwei britische Geheimagenten, die in Deutschland aufgeflogen waren, ausgetauscht und kehrten unbeschadet in ihre Heimat zurück.
Der Leichnam von Karl Marx hatte indessen das Bestattungsinstitut nie verlassen. Er war von den Tätern in einem unbenutzten Sarg im kalten Keller des Geschäftslokals versteckt und zwischengelagert worden – mehr noch: Als Holmes und Engels ihn mittels Hinweis der überführten Geheimpolizisten bargen, fanden sie darin auch den bedauernswerten Seelenfried, der im bewusstlosen Zustand ebenfalls hineingesteckt worden war. Eine Erfahrung, auf die der gute Mann gerne verzichtet hätte. Zu einem späteren Zeitpunkt hätten die Täter den Körper von Marx nach Deutschland bringen sollen, wo insbesondere sein Gehirn seziert und genau untersucht worden wäre, um Erkenntnisse über die menschliche Intelligenz und den revolutionären Geist zu gewinnen. Selbstredend ein aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht grober Unfug, den man sich nur in Deutschland ausdenken konnte. Aber dazu kam es nun ohnedies nicht.
Vielmehr wurde auch das Begräbnis zwar mit einiger Verspätung, aber doch noch in aller Würde und in Anwesenheit des Verstorbenen durchgeführt. Engels und Liebknecht sollen wunderbare Grabreden gehalten haben. Über die schwierigen Umstände der Zeremonie wurde die Öffentlichkeit nicht informiert.
***
Ich selbst erholte mich nur schleppend von den Ereignissen auf dem Friedhof. Die Erinnerung daran – an den Einschluss im Sarg und den bevorstehenden Tod – hatte traumatischen Charakter. Längere Zeit plagten mich Ängste, extreme Stimmungsschwankungen und Schlaflosigkeit. Erst jetzt, seit ich mich in psychologischer Behandlung bei Dr. Kurzmann befinde, ist mir eine schrittweise Aufarbeitung möglich. Ein Teil davon besteht darin, dass ich mich nun endlich durchgerungen habe, diesen Fall zu Papier zu bringen.
***
Wenige Monate nach den Ereignissen rund um den verschwundenen Leichnam von Karl Marx suchte uns Friedrich Engels eines Vormittags in der Baker Street auf. Er erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden und bedankte sich nochmals für unsere Tätigkeiten.
»Ich hoffe doch sehr«, scherzte ich, »Ihnen ist nicht wieder ein Freund abhanden gekommen, sei es tot oder lebendig.«
»Kein Sorge, Dr. Watson«, antwortete Engels, »in meinem Alter hat man den Großteil seiner Freunde ohnedies bereits überlebt. Nein, ich bin nur hier, um Ihnen persönlich unser neuestes, gerade druckfrisches Machwerk zu überreichen.«
Er nahm ein dickes Buch aus der Tasche und händigte es Holmes aus.
»Es ist die dritte Auflage des ‚Kapitals’, an der ich in den vergangenen Wochen sehr intensiv gearbeitet habe«, erklärte Engels. »Mit einer Vielzahl an Erweiterungen, Ergänzungen und Präzisierungen, die gewiss ganz im Sinne von Marx wären. Vielen Dank nochmals, Mr. Holmes, für Ihre diesbezüglichen Hinweise. Sie waren sehr wertvoll für die Überarbeitung.«
Holmes nickte bescheiden. »Ich bedanke mich, dass ich helfen durfte. Aber: Sie haben mich doch nicht etwa im Vorwort erwähnt?«
Engels winkte ab. »Nein, nein«, versicherte er, »alles, wie von Ihnen gewünscht.«
Ich war doch einigermaßen überrascht, denn über einen inhaltlichen Schriftverkehr mit Herrn Engels über das »Kapital« hatte mir Holmes nichts gesagt.
»Gegenwärtig bin ich übrigens dabei«, setzte Engels fort, »den Nachlass von Marx zu sichten. Sie müssen wissen, er hatte zumindest noch einen zweiten, vielleicht einen dritten Band des ‚Kapitals’ geplant und eine Unmenge an handschriftlichem Material hinterlassen. Trotzdem hoffe ich, mit dem Redigieren des nächsten Bandes binnen eines Jahres fertig zu sein. Sie würden doch auch vorab einen Blick auf das Manuskript werfen, wenn es so weit ist, nicht wahr?«
»Es wäre mir eine Ehre«, bestätigte Holmes.
Engels seufzte. »Danke. Es ist sehr schade, dass Sie und Marx einander nicht mehr persönlich kennen lernen konnten. Sie verfügen über ähnliche Charaktereigenschaften – die Akribie, der Überblick, die scharfsinnigen Schlussfolgerungen, die genaue СКАЧАТЬ