Название: Lebendige Seelsorge 3/2018
Автор: Erich Garhammer
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429063795
isbn:
Gegen Buchers Diagnose habe ich wenig einzuwenden. Unsere Beobachtungen decken sich weitgehend. Die Frage ist nur, was tun mit dieser Erkenntnis? Und hier, so mein Eindruck, gehen unsere Ansichten auseinander. Bucher spricht über das Kirchenrecht: was es leisten müsste und warum ihm dies nicht gelingt. Und er spricht über Kanonistinnen und Kanonisten und ihre grundverschiedenen Strategien, die Spannung zwischen Geltung und Faktizität auszuhalten. Auffällig ist, wie wenig von der Pastoral und der Pastoraltheologie die Rede ist. Ich vermisse den Blick auf das eigene Fach und den eigenen Gegenstand, der sich zum Beispiel in der Frage konkretisieren müsste, ob und inwieweit gelungene Pastoral das Recht benötigt – und welches.
Buchers These, dass „die Präsenz des Evangeliums in postmodernen Zeiten eine Lebensund Sozialform braucht, die nicht primär in juridischen Kategorien, sondern situativ, aufgabenbezogen und primär an den praktischen Konsequenzen des Glaubens orientiert ist“, impliziert eine Gegensätzlichkeit, die ich nicht teile. Denn sind Sozialformen, die situativ, funktional und pragmatisch zu agieren vermögen, nicht zumeist rechtlich integriert? Als ob die Pastoraltheologie ohne juridische Kategorien auskäme, wenn sie über Strukturen spricht!
Scharfsinnige Argumente gegen die These, dass Recht ein notwendiges Instrument sozialer Integration sei, kommen zurzeit gut an (vgl. Loick). Ich selbst kann mich ihnen nicht anschließen. „Ubi societas/communitas ibi ius“ oder mit Luhmann: „Kein System kann über längere Zeit hinweg […] normative Erwartungen handhaben, ohne daß […] Recht anfällt“ (Luhmann 1984, 451). Juridische Kategorien sind omnipräsent, wir entgehen ihnen nicht. Das Juridische ist ein unhintergehbarer Aspekt des Sozialen. Für die Kirche gilt nichts anderes. Nicht die juridischen Kategorien sind hier das Problem, sondern die Verrechtlichung von Fragen, die keine rechtlichen sind, prozedurale Defizite, vormoderne Entscheidungsstrukturen und neuscholastisches Schwarz-Weiß-Denken. Die kirchliche Tragik liegt nicht im Juridischen, sondern im vormodern Juridischen. Der Kanonist Werner Böckenförde notierte zutreffend: „Kirchenrecht ist unentbehrlich, um einen geordneten Austrag von Konflikten zu ermöglichen. Wir brauchen nicht weniger kirchliche Normen, sondern andere, welche die Bezeichnung Recht verdienen“ (Böckenförde, 166).
Die kirchliche Tragik liegt nicht im Juridischen, sondern im vormodern Juridischen.
Auch Bucher relativiert seine Rechtskritik, indem er schreibt: „‚Rechtskirche‘ und ‚Liebeskirche‘ […] sind tatsächlich keine Alternativen, aber sie konstituieren einen realen Kontrast.“ D’accord. Sind sie jedoch keine Alternativen, überzeugt die Rede von der „Priorität der Pastoral“ nicht. Recht und Pastoral sind keine gleichgelagerten Kategorien, stehen in keinem Konkurrenzverhältnis. Daher kann man sie einander nicht über- oder unterordnen (wenn ich auch nicht bestreite, dass das geschieht). Pastoral ist, wie Bucher bestimmt, der primäre Auftrag von Kirche, der Liebe Gottes zu den Menschen konkreten Ausdruck zu geben. Das Recht ist Bedingung der Möglichkeit dieses Handelns als Gemeinschaft. Dass das geltende Recht diesbezüglich reformbedürftig ist, keine Frage. Die Kur kann jedoch nicht sein, die Pastoral dem Recht vorzuordnen, sondern das Recht so zu reformieren, dass es integrierend wirkt.
In diesem Licht deute ich Fußnote 351 in Amoris laetitia. Dass sich eine Aussage mit Rechtsrelevanz in einer Fußnote findet, signalisiert nicht, dass das Kirchenrecht unter Franziskus auf einem der Pastoral nachgeordneten Posten zu finden ist. Die im Text des Schreibens erfolgende Bezugnahme auf Gläubige, „die in ‚irregulären‘ Situationen leben“ (Amoris laetitia Nr. 305), intoniert ja gezielt das Juridische. Es geht darum, einen pastoral verantwortbaren Umgang mit Irregularität zu finden – nicht gegen, sondern mit dem Recht. Fußnote 351 untergräbt nicht das Recht, sondern dient als dessen Interpretationshilfe.
Die Pastoral ist nicht dem Recht vorzuordnen, sondern das Recht so zu reformieren, dass es integrierend wirkt.
Recht ist deutungsoffen. Die Deutung des für die Frage der Kommunionzulassung einschlägigen c. 915 CIC/1983 ist seit Jahren umkämpft. In der Norm heißt es: „Zur heiligen Kommunion dürfen nicht zugelassen werden […] andere, die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren.“ Es gibt Stimmen, die diese Norm auf die Situation wiederverheirateter Geschiedener für durchgängig anwendbar halten, und Stimmen, die dies verneinen (vgl. Lüdicke). Franziskus bietet eine vermittelnde Auslegung an. Seine Fußnote klärt, wie man das Recht anwenden sollte: differenziert, situativ, an praktischen Konsequenzen orientiert.
Die Fußnote greift also nicht das Recht an, sondern legt es aus. Die Norm bleibt, ihre Auslegung verändert sich. Diese Methode, einen Rechtswandel durch Interpretation zu erzeugen, ist ein Klassiker kirchenrechtlicher (wie jüdisch-rechtlicher und islamischer) Rechtsentwicklung und erkennbar einer „Hermeneutik der Kontinuität“ verpflichtet. Auch Franziskus agiert in diesem Sinne traditionell. Er entwickelt das Recht weiter, jedoch nicht durch Normveränderung, sondern auf dem Weg von Interpretation. Die Rechtsnorm kann bleiben, weil sie sich inhaltlich als anpassungsfähig erweist. Franziskus‘ Politik ist daher gerade keine Abwertung des Rechts. Ich verstehe sein Pontifikat nicht als „Umkehr der Relevanzhierarchie von Pastoral und Recht“, sondern als Versuch, pastorale Anliegen zum Auslegungsmaßstab des Rechts zu machen. Ob das ein gelungener Ansatz ist, ist andernorts zu diskutieren. Festzuhalten ist an dieser Stelle, so meine ich, dass die Frage, ob eine Reform der Kirche und ihres Rechts gelingt, sich nicht an Hierarchisierungen entscheidet, sondern daran, ob die Kirche ihre rechtlich integrierte Sozialgestalt aus der Vormoderne in die Moderne zu tragen vermag.
LITERATUR
Böckenförde, Werner, Statement aus der Sicht eines Kirchenrechtlers auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen zum Thema „Der Glaubenssinn des Gottesvolkes“, in: Lüdecke, Norbert/Bier, Georg (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche. Gedenkschrift für Werner Böckenförde (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 37), Würzburg 2006, 161 – 166.
Loick, Daniel, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2212), Berlin 2017.
Lüdecke, Norbert, War es wirklich eine Revolution? Contra, in: Die Zeit vom 11. Okt. 2012, Nr. 42, 64.
Ders., Der Codex Iuris Canonici als authentische Rezeption des Zweiten Vatikanums. Statement aus kanonistischer Sicht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 26 (2007) „Vierzig Jahre II. Vatikanisches Konzil“, 47 – 69.
Lüdicke, Klaus, Wieso eigentlich Barmherzigkeit? Die wiederverheirateten Geschiedenen und der Sakramentenempfang, in: Herder Korrespondenz 66 (7/2012) 335 – 340.
Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984.
Ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 175 – 202.
Noch ziemlich rücksichtsvoll
Die Replik von Rainer Bucher auf Judith Hahn
Judith Hahns informativer Beitrag will Wege aufzeigen, wie das Verhältnis von Pastoral und Kirchenrecht jenseits von banaler Harmonie und destruktivem Kontrast kreativ werden könnte. Darin treffen sich СКАЧАТЬ