Wie viel Tier darf's sein?. Michael Rosenberger
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Название: Wie viel Tier darf's sein?

Автор: Michael Rosenberger

Издательство: Bookwire

Жанр: Зарубежная психология

Серия:

isbn: 9783429062927

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СКАЧАТЬ gegenüber Fremden und Armen, der Solidarität mit den Hungernden. Von Anfang an verdrängt wurden hingegen Fragen des leiblichen Wohlergehens, der Lust und des Genusses von Essen und Trinken. Und schrittweise zurückgedrängt, wenn auch nie ganz vergessen, wurden Fragen des Fleischkonsums, die in der Anfangszeit des Christentums, wie wir noch sehen werden, eine prominente Rolle spielten, nach und nach aber an Bedeutung verloren.

      Wie verhält sich das Christentum zum Fleischkonsum? Ist eine vegetarische oder gar vegane Ernährung christliche Pflicht? Ist sie umgekehrt vielleicht verwerflich, weil sie als alternative Heilslehre missverstanden werden kann? Gibt es womöglich, auch das wäre denkbar, eine völlige ethische Neutralität des christlichen Glaubens gegenüber Fleischverzehr und Fleischverzicht? Das ist die leitende Fragestellung dieses Buches. Auffallend ist dabei, dass das Christentum im kultischen Bereich nur vegane Lebensmittel verwendet: Brot, Wein und Pflanzenöl. Tierische Produkte haben (außer für die Armenspeisung) keinen Zugang zum Altar. Wir werden noch sehen, dass das eine Weichenstellung mit weitreichenden Folgen ist. Sie vollzieht sich im deutlichen Unterschied zum Judentum, das zur

      Zeit Jesu im Jerusalemer Tempel zahllose Tiere opfert und auch nach dessen Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. zumindest im Ritual des Paschamahls bis heute Lammfleisch und ein Ei verwendet.

      Vegetarismus und Veganismus haben mittlerweile eine größere Bandbreite an Selbstverständnissen entwickelt. Bis vor wenigen Jahren praktizierten VegetarierInnen und VeganerInnen ihre Ernährungsweise praktisch immer im Kontext einer Weltanschauung. Sie drückten damit tiefgreifende Wertorientierungen aus. Im Zeitalter der Selbstdarstellung hat sich das gelockert. Heute sind Vegetarismus und Veganismus für manche Menschen Lifestyle statt Weltanschauung, Konvenienz statt Ethik, Selbstdarstellung statt Altruismus, Option statt Mission. Aber selbst dann geht es bei der Wahl einer fleischfreien oder gar tierproduktfreien Ernährung um mehr als nur die physische Materie tierischer Lebensmittel.

      Ernährung ist symbolische Kommunikation und Interaktion. Über Essen und Trinken vermitteln wir einander verborgene Botschaften über unsere Werte und unseren Lebensstil. Im Essen und Trinken drücken wir uns selber aus: „Der Mensch ist, was er isst.“1Nur wenige Zitate werden so häufig verwendet und sind trotz ihrer Abnutzung so wahr. Die gesamte Identität des Menschen lässt sich an seinem Essen und Trinken erkennen. Denn im Essen und Trinken interagiert der Mensch – ganz gleich ob er allein oder in Gesellschaft ist – mit all jenen, zu denen er unmittelbar oder mittelbar Sozialbeziehungen besitzt – und das heißt mit allen Menschen. Die Ernährung ist Schlüsselmedium sozialer Beziehungen, Symbol für Identität und Differenz aller sich ernährenden Individuen.2

      Von daher ist es nur logisch, dass sich FleischesserInnen von VegetarierInnen und VeganerInnen und umgekehrt diese von FleischesserInnen in Frage gestellt, ja sogar angegriffen fühlen – allein dadurch, dass sie miteinander an einem Tisch essen. Fast zwangsläufig wird sich das Tischgespräch der im Raum stehenden Streitfrage zuwenden. Beide Gruppen fühlen sich genötigt, sich voreinander zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang stehen die vielen Witze über VegetarierInnen, von denen ich einige weniger aggressive zitieren möchte:

      – Aus dem Leben eines Vegetariers: „Kinder, kommt zu Tisch, das Essen wird welk!“

      – Wie nennt man einen dicken Vegetarier in Jugendsprache? – Biotonne.

      – Auch die größten Vegetarier beißen nicht gerne ins Gras!

      – Was ist der Unterschied zwischen einem Fleischesser und einem Vegetarier? Der Vegetarier stirbt gesünder! – Das Wort „Vegetarier“ kommt aus der Indianersprache und heißt „zu blöd zum Jagen“.

      Nicht wenige Spottverse greifen die enge Beziehung zwischen Ernährung und Sexualität auf. Einige der harmloseren seien ebenfalls erwähnt:

      – Vegetarier sind die, die Karotten lebendig und nackt ins Wasser werfen.

      – Dürfen Vegetarier Schmetterlinge im Bauch haben?

      – Platonische Liebe ist vegetarischer Sex!

      Witze sagen mehr über die aus, die sie erzählen, als über die, von denen sie erzählen. Es sagt viel, dass Witze rund um das Thema Fleischverzehr alle nur in eine Richtung gehen. Wer Witze macht, fühlt sich angegriffen oder wenigstens in Frage gestellt. Wer die Eigenheiten des anderen akzeptiert, braucht über sie keine Witze machen.

      Lebensmittel sind zu Lifestyle-Produkten geworden. Die methodisch leitende Perspektive dieses Buches wird daher die sein, was Fleischkonsum auf der einen und Fleischverzicht auf der anderen Seite über jene sagen, die dies als ihre Ernährungsoption wählen. Welche Identität geben sich Menschen, wenn sie eine Entscheidung für oder gegen tierische Produkte treffen? Denn letztlich geht es in Ethik und Religion immer um die Frage, wer man oder frau sein will.

      Eine Auseinandersetzung wie die zwischen FleischesserInnen und VegetarierInnen und VeganerInnen vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Viele der Argumente pro und contra sind ohne den aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang gar nicht nachvollziehbar. Ernährung, einer der grundlegendsten natürlichen Vorgänge aller Lebewesen, vollzieht sich im Kontext der industrialisierten und globalisierten Moderne. Sechs typisen die Ernährung diese Epoche:3

      – Die Agrarrevolution hin zu immer zielgenauerer Züchtung, Maschinisierung und Chemisierung.

      – Das Entstehen von wenigen global agierenden Lebensmittelunternehmen.

      – Der Aufbau einer weltumspannenden Transportkette und Verkehrsinfrastruktur.

      – Die Vervielfältigung der Konservierungsmethoden, die den Transport über weite Strecken ermöglichen.

      – Die Kommerzialisierung: Praktisch alle Lebensmittel werden heute gekauft. Dies ist nur möglich durch die Privatisierung allen Landes, auch der früheren „Allmende“, also der allen Menschen einer Gemeinschaft miteinander gehörenden Flächen.

      – Die räumliche Trennung von Arbeiten und Wohnen, die die räumliche Trennung von Essen und Wohnen zur Folge hat. Mahlzeiten werden zunehmend außer Haus und unter Zeitdruck gegessen.

      Diese sechs Charakteristika umreißen gesellschaftliche Umbrüche, die kaum dramatischer gedacht werden können. Zwischen der Landwirtschaft vor 1800 und der nach 2000 bestehen fast keine Übereinstimmungen. Die technische und ökonomische Revolution hat alles von Grund auf verändert. Das gilt auch, ja ganz besonders für die Tierhaltung, die Verarbeitung und den Konsum tierischer Lebensmittel.

      Im Folgenden gehe ich in vier Schritten vor:

      Noch zu Teil I (Einleitung) gehört die Darlegung der wichtigsten Begrifflichkeiten und der verschiedenen Dimensionen veganen Lebens.

      In Teil II (Sehen) untersuche ich den Trend zu vegetarischer und veganer Ernährung, der in den letzten Jahren zu beobachten ist, und frage nach seinen Hintergründen und Ursachen.

      Teil III (Urteilen) ist einer vielschichtigen theologischethischen Diskussion über Vegetarismus, Veganismus und Fleischverzehr gewidmet.

      Teil IV (Handeln) schließlich richtet sein Augenmerk auf die praktischen Konsequenzen, die sich aus der ethischen Analyse ergeben, und endet mit einer hoffnungsvollen Vision.

      Der Begriff Vegetarismus ist – anders als die durch ihn bezeichnete Lebensform, die seit der Entstehung der Hochkulturen stets von kleineren oder größeren Gruppen gelebt wurde – erst im England der СКАЧАТЬ