Название: Der Todeswind der blauen Zipfel oder Die missliche Wahl der Miss Grafeneckart
Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783429062729
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AM SPÄTEN NACHMITTAG DESSELBEN TAGES
Oberbürgermeister Merlin Schluckthardt raufte sich erneut sein üppiges Haupthaar, wodurch er seinen exakt gezogenen Seitenscheitel zerstörte, was ihm aber in der augenblicklichen Situation völlig gleichgültig war. Dabei drehte er bestimmt zum fünften Mal eine Runde um den großen Besprechungstisch in der Ecke seines Dienstzimmers. Sein Blick glitt dabei über genau einhundertfünf Farbfotografien in der Größe neun mal dreizehn, die, ordentlich nummeriert nach dem Eingangsdatum, in Reih und Glied auf der polierten Edelholzplatte aufgelegt waren. Präzise, wie der Chef der Würzburger Stadtregierung war, korrigierte er seinen Gedanken sofort: Reih war sicher richtig, von Glied konnte man aber nicht sprechen, da auf den Fotos ausnahmslos ein repräsentativer Querschnitt Würzburger Stadtschönheiten abgelichtet war. Alle in mehr oder weniger ansprechenden Posen, fast ausnahmslos alle in mehr enthüllender als verhüllender Badebekleidung, jede mit einem schmelzenden Lächeln auf den Lippen. Niemals hätte sich das Stadtoberhaupt träumen lassen, dass der vor einigen Wochen an die volljährige weibliche Bevölkerung gerichtete Aufruf des Würzburger Stadtrats, sich für die erstmals seit der Existenz der Stadt erfolgende Wahl einer Miss Grafeneckart zu bewerben, eine derartige Resonanz auslösen würde. Die Misswahl war die Idee der dreiköpfigen Fraktion der „Freudigen Wähler“ gewesen, die sich am Ende dank seiner Intervention im Rat durchgesetzt hatte. Selbstverständlich hatten auch alle anderen Fraktionen weitere Vorschläge unterbreitet, die von einer Weinolympiade über einen Bratwursttriathlon bis hin zu einer Schnitzeljagd durch alle Bauruinen der Stadt reichten. Reflexartig, wie es die Damen und Herren Stadträte gewohnt waren, hatten sie natürlich sofort die Anregungen der jeweils anderen Fraktionen als absolut untauglich abgelehnt. Einige forderten ein Gutachten, konnten sich aber nicht auf das Worüber einigen. Andere forderten den Einsatz eines Beraters. In mehreren Nachtsitzungen, in denen sich sogar das Interesse einiger Hinterbänkler so entzündete, dass sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig anwesend waren, hatte man sich so nachhaltig zerstritten, dass einige Ratsherren die Entscheidung bis zur 750-Jahr-Feier vertagen wollten. Wohl in der Hoffnung, dass sie dann wegen natürlicher Fluktuation nicht mehr die schwere Bürde des Amtes zu tragen haben würden. Selbst als eine kleine Anzahl Bürgervertreter diese Problematik zum Anlass genommen hatten, wieder einmal aus Gewissensgründen, wie sie es nannten, Parteienhopping zu praktizieren, also die Partei zu wechseln, veränderten sich die Mehrheitsverhältnisse nicht signifikant.
Schließlich hatte OB Schluckthardt ein Machtwort gesprochen und konnte damit den gordischen Knoten durchschlagen. Man einigte sich in offener Abstimmung, ohne Fraktionszwang, auf einen Losentscheid. Jede Fraktion reichte ihren Vorschlag schriftlich im verschlossenen Umschlag ein. Zweiter Bürgermeister Andy Farmer stellte aus seinem Dienstzimmer ein absolut gewaltfrei getöpfertes Aborigine-Tongefäß, das er von seinem letzten Abnehmurlaub im australischen Outback als Souvenir mitgebracht hatte, zur Verfügung, in dem dann die Vorschläge eingelegt wurden. Es hatte einer weiteren Nachtsitzung bedurft, bis man sich in der dritten Abstimmung auf die deutsche Weinkönigin als Glücksfee für die Auslosung einigte. Da die derzeit Regierende aus terminlichen Gründen keine Zeit hatte, an den Main zu kommen, wurde die emeritierte Sommeracher Weinhoheit Nikki Feen aus dem Jahre 1981 um Hilfe gebeten. Als sie erfuhr, dass die spätere Krönungszeremonie vom Bayerischen Fernsehen übertragen würde und man ihr die Moderation anvertrauen wolle, war sie gerne bereit gewesen, ihr schlankes Händchen in den Lostopf zu versenken. Sie zog den Vorschlag der Freudigen Wähler.
Der Einsendeschluss für die Bewerbungsfotos der Misswahl war seit drei Tagen vorüber und nun oblag es einem eigens hierfür gegründeten Arbeitskreis, bestehend aus Schluckthardt und den Fraktionsvorsitzenden der im Stadtrat vertretenen Parteien, eine Vorauswahl zu treffen. Eine höchst schwierige und undankbare Aufgabe, bei der man eigentlich nichts richtig machen konnte. In zehn Minuten würden sich die Fraktionsvorsitzenden bei ihm einfinden, um das Prozedere der Vorauswahl zu besprechen.
Da klopfte es auch schon an der Tür. Der OB wurde aus seinen grüblerischen Gedanken gerissen. Auf sein „Herein“ betrat Sepp Steinklopfer, der Fraktionsvorsitzende der Freudigen Wähler, beschwingt das Büro.
„Sorry, ich bin etwas zu früh“, warf er mit einem freundlichen Winken in den Raum. „Aber wie sag ich immer, man kommt besser zu früh als gar nicht.“ Sein schallendes Gelächter brach sich an den Wänden der Amtsstube. Steinklopfer war bekannt für seine scharfe Zunge und seinen skurrilen Humor, Eigenschaften, die in schwierigen Stadtratssitzungen immer wieder für Auflockerung sorgten, weil sie nicht von jedem verstanden wurden.
„Zunächst einmal einen wunderschönen Nachmittag, Herr Oberbürgermeister, wie ich sehe, befassen Sie sich bereits intensiv mit den Schönsten der Stadt.“
„Grüß Gott, Kollege Steinklopfer, da haben wir uns ja was Tolles eingebrockt, das kann ich Ihnen sagen!“ Er gab Steinklopfer die Hand und wies dabei mit der anderen Hand auf die Bilder.
„Da kann ich Ihnen nur beipflichten, da sind ja ein paar echte Sahneschnitten dabei, wenn ich das so sagen darf.“ Steinklopfers Augen bekamen einen ganz feuchten Glanz.
„Aber Herr Kollege …!“ Der OB kam nicht weiter, weil es in diesem Augenblick erneut klopfte und mehrere Personen das Dienstzimmer betraten. Es handelte sich um sämtliche Fraktionsvorsitzenden der zehn vertretenen Parteien des Stadtrats von Würzburg. Der OB gab allen die Hand, dabei erklärte er entschuldigend: „Es tut mir leid, es ist hier etwas ungemütlich, aber ich wollte die Bilder nicht in einem anderen Raum auslegen lassen, da ich vermeiden wollte, dass Unbefugte sie zu sehen bekommen.“
Unter allgemeinem Volksgemurmel verteilten sich die Damen – als zweite Frau für den verhinderten Rochus Hirschruf war seine Stellvertreterin Aisha Ludmilla Brandner erschienen – und Herren im ganzen Raum rund um den Tisch und musterten konzentriert die Fotos.
Die beiden Damen, die sich natürlich deutlich in der Unterzahl befanden, warfen ihren männlichen Kollegen kritische Blicke zu. Unter Berücksichtigung der teilweise sehr freizügigen Badebekleidung, die die Bewerberinnen auf den Bildern trugen, waren sie sich insgeheim darin einig, dass in dieser Frage aus hormonellen Gründen nur von den wenigsten Herren eine objektive Beurteilung zu erwarten war. Da würde selbst die ältesten Semester ein Frühlingsahnen ereilen.
Der Oberbürgermeister räusperte sich, um sich Gehör zu verschaffen. Nachdem etwas Ruhe eingetreten war, erklärte er: „Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nachdem unser Aufruf unter der weiblichen Bevölkerung von Würzburg eine derartig erfreuliche Resonanz gefunden hat, aber natürlich nur eine der Damen den Titel erringen kann, müssen wir uns nun dem undankbaren Geschäft der Vorauswahl unterziehen. Ich habe mir daher folgendes Prozedere überlegt: Jede der im Stadtrat vertretenen zehn Parteien schließt in einem ersten Auswahlverfahren jeweils zehn Bewerberinnen aus. Damit sind dann schon mal hundert Damen ausgeschieden. Die dann verbleibenden fünf Kandidatinnen müssen sich dann einem noch näher zu beschließenden Auswahlverfahren durch dieses Gremium stellen. Das sollte dann, etwa vergleichbar mit der Wahl der Weinkönigin, öffentlich geschehen.“
Der Oberbürgermeister suchte in den Gesichtern der Bürgervertreter nach einer Reaktion. Meist vergeblich. Zumindest die männlichen Volksvertreter hatten überwiegend nicht zugehört, weil sie sich immer noch intensiv mit den Bildern beschäftigten. Der OB wiederholte noch einmal seinen Vorschlag, diesmal lauter.
Jetzt begann eine heftige Diskussion. Ging es am Anfang noch recht sachlich und gesittet zu, änderte sich das Verhalten schlagartig, als erste Fraktionsvorsitzende sich Fotos schnappten und lauthals Ausscheidungsmerkmale verkündeten. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, dass die Kandidatin, die von dem einen Stadtrat abgelehnt, sofort von einem anderen als einzig wahre Favoritin bezeichnet wurde. Rufe wie „Du hast doch kei Ahnung, die sieht doch echt super aus!“ oder „Lass mich halt aa amal guck!“ СКАЧАТЬ