Название: Geist & Leben 3/2017
Автор: Christoph Benke
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429063207
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Nadia Rudolf von Rohr OFS | Morschach
geb. 1975, lic. phil., Geschäftsstellenleiterin
Franziskanische Gemeinschaft
Fernnahe Liebe
Niklaus und Dorothea von Flüe
600 Jahre ist es her, dass Bruder Klaus zur Welt kam, das heißt richtiger: Niklaus von Flüe. Denn der Schweizer Nationalheilige führte zunächst ein Leben als gestandener Bauer und Truppenführer, als Familienvater und gesellschaftlich engagierter Politiker. Erst in der letzten Lebensphase wurde er zu Bruder Klaus und zu dem Eremiten im Ranft,1 der bis heute Reisende und Ratsuchende aus aller Welt anzieht.2 Fragt man nach dem Heiligen Bruder Klaus, wissen viele Menschen allenthalben, dass das doch jener sei, der um Gottes Willen Frau und Kinder verlassen hätte. Ein Skandal, dass so etwas zu einem heiligmäßigen Leben gehört! Heutige Interpreten vermuten hinter Niklaus‘ Weggang eine Midlifecrisis oder ein Burnout, das ihn zwang, seine Prioritäten radikal anders zu setzen.3 Das wird aber dem Gottsucher Niklaus und seiner Berufung nicht gerecht. Und es wird v.a. auch Dorothea, seiner Frau, nicht gerecht. Weder wird sie einfach verlassen noch lässt sie Niklaus selbstaufopfernd ziehen. Die beiden ringen eingehend um ihre Zukunft, ihre Berufung und die Form dafür. Am Ende findet Dorothea zu einem Ja, das Niklaus den Weg frei macht für sein eremitisches Leben und das beide trotz äußerer Trennung innig verbindet.
Bäuerliche Gesellschaft im 15. Jahrhundert
Niklaus und Dorothea wachsen Anfang des 15. Jhs. mitten in der Schweiz im lieblichen Tal des Kantons Obwalden auf. Ihre Lebensumstände sind geprägt vom ländlichen Alltag der Bauern, die die Landwirtschaft intensivieren und sich zunehmend auf Viehwirtschaft spezialisieren. Durch den lukrativen Verkauf von Käse und Rindern insbesondere auf den Märkten der Großstädte Oberitaliens bringen sie es zu einigem Wohlstand. Auch die von Flüe sind zur oberen Mittelschicht des Bauernstandes zu zählen. Die bäuerliche Gesellschaft von damals kennt eine klare Rollenverteilung, die Mann und Frau je eigen für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Prosperieren verantwortlich macht: Während der Mann sich um den Hof, d.h. Vieh- und Ackerwirtschaft sowie allenfalls Politisches zu kümmern hat, besorgt die Frau Haus, Garten und Familie. Das schloss die Produktion und Verarbeitung eines Großteils der notwendigen Lebensmittel mit ein. Obschon anspruchsvoll und bisweilen hart, war ihr Leben aus moderner Sicht beschaulich.
Das 15. Jh. ist – wie die heutige auch – eine Zeit tiefgreifender Umbrüche. Die neu entstehende bäuerliche Oberschicht beansprucht mehr und mehr wirtschaftliche und politische Macht und verdrängt so den Landadel. Gleichzeitig festigen die vielfältig vernetzten Städte und Länderorte4 ihre Bündnisse. Allmählich verstehen sie sich als eine gemeinsame Größe, die sich – durchaus auch mit militärischen Mitteln – abgrenzt gegen andere Größen wie Habsburg oder das Burgund.5 Solche Entwicklungen beeinträchtigen auch den Alltag von Niklaus und Dorothea. Als wehrfähiger Mann zieht Niklaus in jungen Jahren und noch unverheiratet mehrmals mit bewaffneten Truppen los. Auch wenn es ihm zuwider ist, kommt er seinen diesbezüglichen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach und leistet seinen Dienst. Der Mensch des 15. Jhs. findet erst langsam zu einem neuen Selbstverständnis. Noch steht das Kollektiv weit über dem Einzelnen und individuelle Interessen sind zweitrangig. Vielmehr ist der Garant für Sicherheit und Stabilität das Gemeinwohl, das es, wenn nötig, auch mit Waffengewalt zu verteidigen gilt.
Dorothea und Niklaus
Als Dorothea das Licht der Welt erblickt, verhandelt Niklaus, der rund fünfzehn Jahre älter ist als sie und bereits volljährig, schon an der Landsgemeinde über politische Sachgeschäfte mit.6 Bei seiner Heirat mit Dorothea ist Niklaus nahezu dreißigjährig und verehelicht sich damit spät. Sie hingegen ist eine noch junge Frau. Dennoch wusste Dorothea als Tochter eines Ratsherrn wohl früh um das Wesen des gesellschaftlichen Miteinanders und um die damit verbundenen politischen Machenschaften. Ihr Mann wird selber Ratsherr und Richter und ist in der Ausübung dieser Ämter immer mal wieder abwesend. Dorothea obliegt dann, zusammen mit ihren ältesten Söhnen, das Führen des Hofes.7 Sie hält ihrem Mann den Rücken frei, der so der Gemeinschaft wertvolle Dienste erweisen kann und Erfahrungen sammelt, die ihn später als Eremit und gesuchten Ratgeber mit gesunder Distanz auf die Geschehnisse blicken lassen.
Zwanzig Jahre lang führen die beiden eine Ehe, die ihnen zehn Kinder schenkt und Haus und Hof im gemeinsamen Miteinander blühen lässt. Zeitzeugen beschreiben Dorothea als suberliche junge frowe von gutem Aussehen, religiös, eine fromme husfrowe, tüchtig, umsichtig und ehrbar. Niklaus ist seinerseits ein gestandener Bauer und ein gefragter Mann, gesellschaftlich angesehen und in seinen Ämtern erfolgreich. Ein Ratschlag des späteren Eremiten an einen jungen Burgdorfer lässt vermuten, dass er mit Dorothea gerne zu Tanze ging.8 Um 1465 allerdings legt er alle seine politischen Ämter nieder. Er gerät in eine Krise und ringt die nächsten zwei Jahre mit sich und seiner Berufung. „Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass in diesen Jahren der langjährige Konflikt zwischen dem erfolgreichen äußeren Lebensweg als Ehemann, Vater, Bauer und Ratsherr und dem inneren Lebensweg als Gottsucher, Fastender und Beter zu einem geradezu gewaltsamen Ausbruch kam und nach einer definitiven Lösung verlangte.“9
Niklaus‘ Krise
Die Krise ist nicht einfach eine Midlifecrisis – zumal Niklaus da schon 50 Jahre zählt und für das Spätmittelalter ein alter Mann ist – und auch kein Burnout, obschon Familie, Hof und politische Verantwortung ihn vielseitig fordern und insbesondere die ernüchternden politischen Entwicklungen ihn zunehmend belasten. Was sich da Bahn bricht, ist das innerste Sehnen nach dem „einig Wesen“, wie Niklaus es nennt, einem Leben ganz mit und in Gott. Diese Sehnsucht ist in seinem Leben nicht neu. Seine früheren Kameraden berichten davon, dass er bereits als Junge die Stille suchte und schon früh regelmäßig fastete. Auch Dorothea ist damit vertraut, dass Niklaus sich gerne zurückzieht zum Gebet, tagsüber in den Ranft, des Nachts aus dem ehelichen Bett in die Wohnstube zum warmen Ofen, wo er sich innigst dem Gespräch mit Gott hingibt. Die Quellen berichten ausführlich von diesem seinem Wesenszug und davon, dass er sich in der Krise und in seiner Not an den befreundeten Priester Heinrich Amgrund wendet, der ihm dazu rät, in täglichen Gebetszeiten regelmäßig das Leiden Christi zu betrachten. Anfänglich hilft das dem Ringenden, aber schnell wird deutlich, dass die klösterlichen Gebetsrhythmen, die Niklaus dafür wählen soll, unvereinbar sind mit den Aufgaben und Pflichten eines Bauern und Familienvaters. Der zunehmende Konflikt droht, ihn zu zerreißen.
Dorotheas Ringen
Wie Dorothea zu Niklaus Glaubensleben stand, wie sie sein Ringen erlebte, was sie selber dabei empfand, dazu ist nichts schriftlich festgehalten. Wir wissen wenig über diese Frau und nichts über ihr Innenleben. Allerdings ist eine Aussage von Niklaus überliefert, die ein Licht darauf wirft, dass Dorothea sich mit der Sehnsucht ihres Mannes auseinandersetzte und ihn schließlich freigab, seiner inneren Stimme und dem Ruf Gottes zu folgen. Niklaus lässt seinen Freund Erni Anderhalden wissen, dass ihm drei Gnaden zuteilwurden: die erste, dass er von seiner Frau und (!) seinen Kindern die Erlaubnis zum Einsiedlerleben erhielt, die zweite, dass es ihn niemals dazu drängte, von dieser Lebensweise abzuweichen und wieder zurückzukehren, und die dritte, dass er ohne zu essen und zu trinken leben konnte.10
Wie kommt Dorothea zu ihrem Ja? Was kostet es sie, Niklaus zu dem werden zu lassen, wonach es ihn im Innersten drängt? Was empfindet sie bei dem Gedanken, dass sie und die Kinder Niklaus möglicherweise daran hindern, sein gottgegebenes Leben zur Vollendung zu bringen? Wie wird Dorothea frei von ihren СКАЧАТЬ