Peterchens Mondfahrt - Peter Sloterdijk, die Religion und die Theologie. Группа авторов
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      1 G. von Bassewitz’ Märchen gab über die Jahre schon oft die Formulierung für eine Auseinandersetzung mit P. Sloterdijk vor: vgl. z. B. U. Holbein, Peterchens Mondfahrt, in: Der Spiegel 42/1993 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9289217.html; abgerufen am 17. 5. 2014); A. Platthaus, Peterchens Mondfahrt. Fährmann, ahoi: Käpt’n Sloterdijk bezwingt den Weltinnenraum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 63/2005 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/peterchens-mondfahrt-1215038.html; abgerufen am 17. 5. 2014); vgl. auch H.-J. Heinrichs, Peter Sloterdijk. Die Kunst des Philosophierens, München 2011, 173 f.

      2 So legt es ihm H.-J. Heinrichs in seinem fiktiven Interview in den Mund: Fiction: P. Sloterdijk trifft Kapitän Nemo und den Seefahrer Ismael, in: M. Jongen u. a. (Hrsg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München 2009, 16 f. „In diesem Sinn wird der Philosoph zu einem Astronauten des Denkens und der psychischen Innen-Räume. Und in der Tat: Dem Leser von Peter Sloterdijks Büchern geht es noch am ehesten wie dem Zuschauer, der die luftigen Bewegungen der Astronauten in der Weltraumkapsel verfolgt, wie sie die menschlichen Lebensmöglichkeiten in einen größeren Raum ausweiten“ (H.-J. Heinrichs, Peter Sloterdijk, 17 f.; vgl. zu diesem Motiv ferner ebd., 10 f.21 f.). Vgl. auch Sloterdijks Beschreibung des ‚wachen Lebens‘ als ein „meteorisches Phänomen“: „Der Mensch ist ein denkender Meteorit“ (P. Sloterdijk, Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785. Ein epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie, Frankfurt a. M. 1987, 282).

       Erik Müller-Zähringer

       Sieben für Theben

       Eine kleine philosophische Heldengeschichte in der alternden Moderne

      Jede Zeit hat ihre Helden, und Helden haben ihre Zeit – gerade die klassischen. Auch die Philosophie, die an der Zeit ist, hat ihre Helden. Frei nach Fichte: Was für einen Helden man wählt, hängt davon ab, in was für einer Zeit man lebt. Helden werden aus der Not geboren, und unterschiedliche Nöte fordern unterschiedliche Helden – das gilt auch für Erklärungsnöte.

      Im Helden legieren sich die allgemeinen Signaturen einer Zeit mit höchst individuellen Zügen1 in der Spannungseinheit von kraftvoller Tat und verhängtem Schicksal.

      Die Neuzeit wähnte den Einzelnen frei im Kampf gegen die Schimären des Schicksals; sie entdeckte, beschwor und verherrlichte seine Handlungsmacht bis zu ihrer Vergötzung. Die Moderne erhob das Schicksal zum Projekt der einen Menschheit, zum Projekt der Geschichte des Kollektivsubjekts Mensch; Aufklärung war ihr Weg. Aufklärung als Entlarvung aller Mächte, die als unverfügbar galten, im Interesse ihrer Beherrschbarkeit. Frei nach Camus: Es gibt kein Schicksal, das durch Entlarvung nicht in unsere Hände gelegt werden kann; ja, Aufklärung sucht fürwahr „aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit [zu machen], die unter Menschen geregelt werden muß.“2 Doch mit dem Altern von Neuzeit und Moderne reift die Erkenntnis: Allen Entlarvungen zum Trotz behauptet sich das Schicksal mit Macht; auch selbstverschuldet, selbstgewebt ist es unverfügbar. Mehr noch: „Wir gehören nicht mehr zu jenem Geschlecht der tragischen Helden, die, nachträglich jedenfalls, zu erfahren hatten, daß sie sich selbst ihr Schicksal bereitet hatten. Wir wissen es schon vorher.“3

      Dass sich aus dem Faden unserer Taten das Netz knüpfte, in das wir uns verschlingen, das uns verschlingt, diese Erkenntnis teilen die Heroen antiker Tragik mit jenen, die Einsicht in die Tragödie der Aufklärung gewannen; freilich mit unterschiedlichen Prämissen. Der Plan von der Abschaffung des Schicksals misslang; die entzauberte Welt, die vollends aufgeklärte Aufklärung strahlt im Zeichen seiner triumphalen Rückkehr. Ungerührt vom Tod der Götter, unberührt von metaphysischen Kräften schießt es aus unseren Handlungen zusammen und ist uns doch so transzendent wie die Moiren der Antike. Das Schicksal ist fürwahr autopoietisch; darin liegt seine Opazität. Von uns erzeugt und doch nicht geschaffen, selbstgesetzt und selbstgesetzlich in einem radikalen Sinne widersteht es jeglicher nomologischen Aufklärung. Mit dem Schicksal ist wieder zu rechnen; berechenbar ist es nicht. Die Theorie hat diesen Gedanken großflächig exekutiert – und mit ihm althergebrachte Vorstellungen kausal-linearer Handlungszusammenhänge; von der Biologie über die Soziologie hin zur Pädagogik: „Von der Autonomie zur Autopoiesis“4 heißt die Losung. Freiheit, Absichtlichkeit, Zweckdienlichkeit, Moralität einer Handlung – welche Rolle sollten solche Merkmale des klassischen Handlungsbegriffs noch spielen nach der Einsicht: Ich handle, also geschieht es? Längst ist selbst in einer naturwissenschaftlich-nomologisch geprägten Zivilisation wie der unseren das einst hypostasierte Band zwischen Ursache und Wirkung in komplexeren Zusammenhängen gerissen. Gelichtet und opak zugleich tritt das Schicksal in die Lücke.

      Wie aber leben, wie aber handeln im Schatten dieser Erkenntnis? Leben, Handeln im Angesicht des Unverfügbaren ist das Schicksal des klassischen Helden. Der Helden aber sind viele, ebenso der Möglichkeiten, dem Schicksal zu begegnen. Im Folgenden sei eine kleine philosophische Heldengeschichte in der alternden Moderne versucht: nicht der Philosophie als Heldengeschichte, wie sie Hegel erzählt5, sondern eine Geschichte ihrer Helden. Und damit eine kleine Archäologie der europäischen Selbstverständigung6, ein Stück Zeitdiagnostik anstelle der üblichen Einleitung – insbesondere im Blick auf jenen, der sich und „seine eigene zeitdiagnostische Arbeit […] als ein ‚automatisches Klavier des Zeitgeistes‘ [sieht]“7: Peter Sloterdijk. „Genau wie Nietzsche sieht er sich selber als ‚Mundstück‘ und ‚Medium‘, ein Klangkörper, der epochale Stimmungen kommuniziert. […] Gleichzeitig weiß er, dass kein einziges Medium transparent ist: ‚Ich nehme Stimmungen leicht auf, aber ich sortiere ziemlich streng.‘“8 Überdies nimmt Sloterdijk in Anspruch, mit seinen Zeitdiagnosen mittendrin, glatt pur dabei zu sein: „zeitkrank […], um zeitdiagnostisch etwas zu sagen zu haben“, teilt er mit Nietzsche die Vision „vom Philosophen als Arzt der Kultur“9, der sich selbst der Gefahr aussetzt10, um als „Immunologe der Kultur“11 zu wirken. Mittendrin, das heißt aber auch: Zeitdiagnostik aus begrenzter Warte, aus dem Gewühl des Schlachtfelds, nicht vom Feldherrenhügel herab.

      „Wir sind nicht die Briefträger des Absoluten, sondern Individuen, die die Detonationen der eigenen Epoche im Ohr haben. Mit diesem Mandat tritt der Schriftsteller heute vor sein Publikum, es lautet in der Regel nur ‚eigene Erfahrung‘. Auch diese kann ein starker Absender sein, wenn sie ihr Zeugnis vom Ungeheuren ablegt. Sie ermöglicht unsere Art von Mediumismus. Wenn es etwas gibt, wovon ich überzeugt bin, dann davon, daß es nach der Aufklärung, wenn man sie nicht umgangen hat, keine direkten religiösen Medien mehr geben kann, wohl aber Medien einer historischen Gestimmtheit oder Medien einer Dringlichkeit.“12

      „Um Sloterdijks Werk philosophisch ernst nehmen zu können, ist eine großzügige Auffassung von Philosophie erforderlich. […] Sloterdijk ist ein Hyperboliker; seine provokativen Thesen ertragen daher keine dauerhafte Relativierung und Präzisierung. Es ist das Merkmal einer fröhlichen Wissenschaft, dass Ernst und Parodie oder Naivität und Ironie nicht immer unterschieden werden können.“13 Getragen wird sie von durchaus bedenkenswerten zeitdiagnostischen Intuitionen, den „Traumüberschüsse[n] der eigenen Epoche und ihre[m] Terror“14. Theologie, die an der Zeit ist, kann sich eine Auseinandersetzung mit ihnen nicht ersparen. Im Folgenden lasse ich mich von ihnen anregen, bildreich, evokativ, höchst subjektiv, auch in Auswahl und Montage, im Zeichen des Spatzes15, die Detonationen der eigenen Epoche im Ohr.

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