Название: Die Heilkraft christlicher Rituale und Symbole
Автор: Dr. Norbert Weidinger
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783863745783
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Kranzniederlegungen an Mahnmalen gehören als öffentliches Ritual zum festen Bestandteil eines offiziellen Staatsbesuches. Jedes Ritual hat einen festen Ablauf. Hier sieht er vor, dass die Staatsoberhäupter beider Länder hinter Soldaten, die den Kranz tragen, zum entsprechenden Ort schreiten. Die Staatsmänner bleiben in gemessenem Abstand stehen, bis die Soldaten den Kranz niedergelegt haben und zur Seite getreten sind. Nun geht das Staatsoberhaupt, das als Gast gekommen ist, nach vorn, berührt den Kranz kurz, glättet die Streifen, verharrt im stillen Gedenken, verneigt sich, tritt zurück und verlässt die Gedenkstätte gemeinsam mit dem Gastgeber.
Den Ablauf dieses Rituals hat Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 anlässlich der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags zwischen Polen und Deutschland überraschend verändert. Er sank auf die Knie und verharrte schweigend etwa eine halbe Minute am Mahnmal.
Die Reaktionen auf diesen Kniefall fielen unterschiedlich aus. Viele sahen darin eine Demutsgeste. Andere eine Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Tatsache ist, dass noch am gleichen Tag der Warschauer Vertrag mit der Anerkennung der Unverletzlichkeit der faktischen polnischen Grenzen beiderseits unterschrieben wurde. Ein gefährlicher Schwebezustand war beendet. Heute besteht Einigkeit darüber, dass der Kniefall eine wichtige Rolle für das Zustandekommen des Vertrags gespielt hat. Allerdings zeigten sich selbst Freunde des Bundeskanzlers wie Egon Bahr oder Günter Grass damals betroffen, überrascht und besorgt. Sie befürchteten Missverständnisse und negative Auswirkungen. Aber der Spiegel-Redakteur Hermann Schreiber hielt dagegen: »Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durch das ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet – dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können und nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat, und bittet um Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland« (Spiegelausgabe vom 14. Dezember 1970, S. 29 f.). Im Rückblick schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen: »Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht. (…) Ich hatte nichts geplant, aber Schloss Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.«1
Das politische Ritual einer öffentlichen Kranzniederlegung – mit dem ganz persönlichen, intuitiven Zusatz des Kniefalls durch Willy Brandt – zeigt, welch wertvollen Beitrag öffentliche Rituale zur Versöhnung zweier Völker haben können. Interessant bleibt, dass Willy Brandt intuitiv auf eine religiös besetzte Geste, den Kniefall, zurückgegriffen hat. Versöhnung bzw. Heilung bleibt ein Prozess, der Rituale braucht. Und: Rituale und Symbole sind interpretationsbedürftig. Stefan Zweig – lebte er noch – hätte diesen Kniefall sicherlich in sein Buch Sternstunden der Menschheit aufgenommen.
Impuls
Im Blick auf die jüngere Geschichte fallen Ihnen vermutlich weitere Beispiele ein, bei denen Rituale unübersehbare Markierungen des gesellschaftlichen Wandels und manchmal der punktuellen Heilung setzten, wie zum Beispiel der Marsch der Blackpower-Bewegung nach Washington 1963 mit Martin Luther Kings Rede I have a dream, Hungerstreiks politischer Gefangener in totalitären Regimen, die Fridays-for-Future-Aktionen oder Mahnwachen.
Retrospektive eines Psychotherapeuten
Ein Vertreter dieser Zunft, geprägt von Carl Gustav Jung, beendet seine berufliche Tätigkeit. Lorenz Wachinger blickt zurück und zieht ein Fazit in seinem Buch Wie Wunden heilen. Die Rückschau gilt nicht nur seinem Beruf, sondern auch seiner Person, dem Menschen mit seinen ganz persönlichen Kränkungen, Höhepunkten, Enttäuschungen – körperlich und seelisch. Es geht im Kern um Trauerarbeit im eigenen Leben wie in dem der Menschen, die sich ihm Hilfe und Heilung suchend anvertrauen.
Wachinger meint, es komme darauf an, dass aus dem Schmerz die Klage wird, dass sie sich äußern darf. Damit ist die Heilung schon in Gang gekommen. Die Heilung verlangt, dass der Mensch von seinen Verletzungen sein Leben verwandeln lässt. Seine Wunde schließt sich, insofern er seinen Weg geht und die Veränderung seines Lebens annimmt. Im Innersten besteht also der Heilungsprozess in einer Verwandlung.2 Da Wachinger ein Anhänger von C. G. Jung ist, spielt für ihn die Entdeckung des inneren Heilers, einer geheimnisvollen, tragenden Symbolfigur eine wichtige Rolle. Ein Weg zum inneren Heiler führt über individuelle Symbolbilder (auch in Träumen) und über Ur-Bilder der Menschheitsgeschichte. Der innere Heiler, der in jedem Verletzten wirkt, ist wichtiger als der Psychotherapeut. »Stärker als die therapeutischen Techniken ist die spontane Tendenz zur Heilung in jedem, der zu mir kommt«,3 lautet sein Resümee.
Zum Durchleben und Meistern von Krisen hält Wachinger ein großes Repertoire an Heilmitteln bereit: Übungen und Methoden wie Erinnern und Erzählen, Erschließen von Symbolen in Märchen und Heilungsgeschichten der Weltliteratur (auch der Bibel), Schweigen und Körperarbeit, Klagelieder und Klageriten, Gruppenwandern und Gruppenexerzitien, Labyrinthe begehen, zeichnen, (aus)malen und erschließen … ein ergiebiges Angebot!
In dieser Denkweise kann eine seelische Wunde heilen, wenn in einem Menschen der innere Heiler bzw. die Selbstheilungskräfte geweckt werden. Sie setzen den Prozess der Heilung oder Verwandlung in Gang und bringen ihn hoffentlich zum glücklichen Ende. Dabei spielen Rituale und Symbole eine unersetzbare Rolle. Dazu taugen auch Ur-Bilder, wie sie in der Literatur und auch in den Märchen der Völker zu finden sind.
Märchen sind mehr als Märchen
In den 1970er-Jahren gab es heftige Diskussionen über die Tauglichkeit von Märchen für Kinder. Bruno Bettelheim, geprägt vom Denken Sigmund Freuds, schaltete sich in die Diskussionen ein mit der These: Märchen sind unrealistisch, aber nicht unwahr. Es geht darin um die Wahrheit der Fantasie. Auch grausame Passagen bieten Lebenshilfe an, weil sie die Hoffnung wecken: Du kannst Bedrohliches meistern. Märchen sind mehr als Märchen; denn sie bieten beim Lesen bzw. Hören Identifikationsmöglichkeiten mit symbolhaften Gestalten wie Helden und Hexen und helfen so bei der Bewältigung von Gefühlen wie Angst und Aggression. Wir wollen dies an folgendem Märchen aufzeigen.
DIE DREI SPRACHEN
Ein Märchen der Brüder Grimm
Ein Graf war unglücklich über seinen einzigen Sohn. Er hielt ihn für dumm und schickte ihn in die Fremde zu einem Meister in die Lehre. Dort lernte der Sohn, was die Hunde bellen. Bei seiner Rückkehr fragte sein Vater: »Ist das alles?«, und schickte ihn zu einem anderen Meister. Bei ihm lernte der Sohn, was Vögel singen. Bei seiner Rückkehr fragte ihn sein Vater: »Ist das alles?«, und schickte ihn ein drittes Mal fort. Beim dritten Meister lernte der Sohn, was Frösche quaken. Als er es seinem Vater berichtete, geriet der in höchsten Zorn und befahl seinen Dienern: »Tötet ihn!« Die führten den Sohn hinaus, hatten aber Mitleid und ließen ihn gehen. Dann erjagten sie ein Reh. Mit dessen Blut täuschten sie den Grafen.
Der Grafensohn bat in einer Burg um Unterkunft. Der Burgherr gewährte sie ihm im alten Turm und warnte ihn vor den wilden Hunden dort: »Die bellen immerzu! An bestimmten Tagen fordern sie von uns ein Menschenopfer.« Alle Leute um die Burg herum bedauerten den Grafensohn. Der fürchtete sich nicht, sondern bat nur um Futter für die Hunde. Das gaben sie ihm und führten ihn zum Turm. Als er eintrat, bellte kein Hund. Sie wedelten mit ihren Schwänzen, fraßen, was er dabeihatte, und krümmten СКАЧАТЬ