Auch bei mehrmaligem Nachfassen beharrte Jödel darauf, dass sie danach keine Fragen mehr gestellt habe. Zwar sei sie jetzt voll bei Bewusstsein gewesen - oder aufgewacht, wie er es umschrieb —, aber sie wollte weder wissen, wo er sie aufgelesen hatte, noch, was mit ihrer Kleidung geschehen war.
Um 0.16 Uhr am 16. September erschien Jödel mit ihr im Autobahnpolizeiposten Terborn Nord.
Rogge lehnte sich zurück und gähnte. Ob Simon wirklich hoffte, mit diesen kümmerlichen Anhaltspunkten ließe sich der Fall jetzt noch, ziemlich genau zwölf Monate später, aufklären? Oder hatte Simon ihm nur eine Möglichkeit bieten wollen, sich für einige Zeit aus dem Routinebetrieb des Ersten Kommissariats zurückzuziehen, allein und unbeobachtet zu recherchieren, ohne ständig die heimlichen Blicke der Kollegen zu spüren, die sich besorgt oder auch hämisch fragten, ob Rogge es schaffte, sich wieder in die Mannschaft einzugliedern, ob er noch einmal über den Berg käme.
Mit der Schusswunde hatte er im Grunde sogar Glück gehabt. »Neun Millimeter Stahlmantel, mein Bester, die reinste Zimmerartillerie. Glatt rein, glatt durch, glatt raus.« Leinbusch verfügte über jenen speziellen Humor, den nur Arzte im langjährigen Dienst bei der Polizei erwarben, und auch Rogge hatte sich ein Grienen abgezwungen. »Gute Handwerker hier, Jens, die Schulter wird nicht steif bleiben, aber deine Karriere als Gewichtheber ist hiermit beendet.«
»Ich hatte schon auf Marathonlauf umgestellt. Was ist mit dem Jungen?«
»Vor zwei Tagen Exitus.« Sein Mitleid sparte sich Leinbusch für die unschuldigen Opfer auf. Eine Rumänenbande, fünf Männer, wenn man Jugendliche zwischen sechzehn und zweiundzwanzig überhaupt schon so bezeichnen durfte. Der Bruch in das Warenlager war hervorragend ausbaldowert, aber der Zufall machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Der Nachtwächter hatte einen Freund mit gebracht und deswegen missglückte der Überfall. Wächter und Freund konnten noch schießen, ein Einbrecher wurde tödlich getroffen, einer schwer verletzt, die drei anderen Täter verschanzten sich in den Büros. Rogge wollte weiteres Blutvergießen vermeiden. Der MEK-Einsatzleiter hatte ihn gewarnt: »Die sind schon tot, entweder legen wir sie hier um oder die Auftraggeber zu Hause, weil sie den Bruch verpatzt haben. In diesem Geschäft duldet man keine Zeugen.«
»Ich versuche trotzdem.«
»Mensch, Herr Rogge, die haben nichts mehr zu verlieren, die haben mit dem Leben abgeschlossen, was immer Sie denen versprechen.«
»Sorgen Sie bitte dafür, dass endlich der Dolmetscher kommt.«
Der Bullige hatte Recht behalten. Nach sechs Stunden waren zwei endlich mit erhobenen Händen herausgekommen, als plötzlich der dritte, jüngste an ihnen vorbeistürmte, direkt auf Rogge zu, die Pistole im Anschlag, das Gesicht zu einer Fratze aus Hass, Wut und Todesangst verzerrt, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Zweimal konnte er noch schießen, bevor er unter dem Feuer der MEK-Leute zusammenbrach, und seine zweite Kugel durchschlug Rogges linke Schulter.
Verheilt war die Wunde wohl, aber manchmal zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Arm und die linke Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und dahinter tauchte das Gesicht des Schützen auf, verzweifelt, hilflos, hoffnungslos, wie eine überscharfe Momentaufnahme. Auf Killen dressiert, hatten die Zeitungen geschrieben, vielleicht stimmte es sogar, aber den Dresseur hatten sie nicht ermittelt. Die beiden Überlebenden schwiegen immer noch eisern; sie hatten nicht einmal ihre Namen preisgegeben. Sickert, der im Landeskriminalamt die Einsätze gegen die Balkanbanden organisierte, hatte Rogge im Krankenhaus besucht: »Die werden auch keinen Ton sagen, Herr Rogge, Lieber lebenslänglich in einem deutschen Knast als nach Rumänien abgeschoben zu werden,«
»Womit müssten sie dort rechnen?«
»Wenn sie bis dahin keine Silbe aus geplaudert haben — eine schnelle Kugel. Wenn sie auch nur einen Namen genannt haben - tja ...« Er hob beide Hände. »Es gibt sehr unangenehme Methoden, diese Erde zu verlassen. Und an die Familienmitglieder möchte ich gar nicht denken.«
»Vermuten Sie das oder wissen Sie das?«
Sickert hatte unbehaglich gelächelt: »Ich weiß es, Herr Rogge. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, woher.« Nach einer Pause hatte er widerwillig hinzugefügt: »Um Ihr Wohlwollen restlos zu verscherzen, will ich Ihnen gestehen, dass ich über Ihre Verletzung nicht unglücklich bin. Die MEK-Kollegen haben in Nothilfe geballert, das akzeptiert die Öffentlichkeit. Andernfalls würde es heißen, wir duldeten schießwütige Killer in unseren Reihen und so gefährlich und so brutal seien diese Banden doch gar nicht, das sei nur die Propaganda rechter Hardliner in der Polizei.«
»Und in der Politik«, hatte Rogge spöttisch ergänzt. »Ihre Fähigkeit, Trost zu spenden, überwältigt mich.«
»Dann hat sich mein Besuch ja gelohnt«, gab Sickert gemütlich zurück. »Übrigens schöne Grüße und gute Besserung auch von Peter Reineke.«
Nachdem Jödel geschildert hatte, wo und wie er die Frau aufgelesen hatte, informierte die Autobahnpolizei sofort die Kollegen in der Stadt. So heiße Kartoffeln schob man am besten gleich einen Teller weiter, zollte Rogge in Gedanken Beifall. Immerhin war die Routine angelaufen und - was immer man Grem vorwerfen konnte - er hatte nichts übersehen und nichts versäumt. Beim ersten Tageslicht hatten zwei Züge Bereitschaftspolizei das Gelände rings um den Parkplatz Feltenwiese abgesucht. Ohne Ergebnis, keine Spur von der fehlenden Oberbekleidung und den Schuhen der Frau. Und leider auch keine Spur von einer Handtasche mit Ausweispapieren.
Auch die ärztliche Untersuchung hatte ihnen nicht weitergeholfen. Die Frau war nicht vergewaltigt worden, es gab keine Anzeichen eines Notzucht-Versuchs, überhaupt keine Wunde oder Verletzung, die ihre Amnesie erklären konnte, nicht einmal Hämatome, die auf eine körperliche Auseinandersetzung hindeuten würden. Unter ihren Fingernägeln keine Hautpartikel, wie sie bei Abwehrreaktionen typisch waren. Eine Blutuntersuchung ergab eine Alkoholkonzentration von 0,6 Promille für den Zeitpunkt 1.00 Uhr am 16. September, aber sie konnte nicht sagen, wann und wo sie zuletzt etwas getrunken hatte. Auch nicht, ob und wann sie die Beruhigungspillen geschluckt hatte; die ermittelte Diazepam-Konzentration legte die Vermutung nahe, dass sie etwa 0,75 Milligramm sechs Stunden vor der Blutprobe eingenommen hatte. Ob und wie weit die Kombination von Alkohol und Valium die Amnesie ausgelöst haben konnte, blieb reine Spekulation, solange nichts über die Mengen und Umstände zu erfahren war. Ansonsten war die Frau organisch völlig gesund, Seh- und Hörstärke normal, ihre Zähne in einem beneidenswert guten Zustand.
Fingerabdrücke - nirgendwo registriert.
Der Abgleich der Vermisstenanzeigen mit den Merkmalen der Unbekannten füllte eine eigene Nebenakte. In zwei Fällen hatte Grem eine Gegenüberstellung arrangiert, beide Male negativ. Niemand schien die Frau zu vermissen.
Die zweite Nebenakte überflog Rogge nur. Wenn man alle gelehrten Spekulationen und unverständlichen Fachausdrücke wegließ, musste auch die Weißkittelriege bestätigen, was die Unbekannte plastisch so formuliert hatte: »Ich bin aufgewacht und saß neben einem netten Mann im Auto. Was früher war, ist ein graues Loch voller Nebel.« Grems Vermutung, sie sei eine hervorragende Simulantin, wollte kein Psychiater unterstützen, im Gegenteil, alle unterstrichen, dass sie ernsthaft mitarbeitete, um ihre wahre Identität herauszufinden. Doch selbst Hypnose führte keinen Schritt weiter und irgendwann im März musste Inge Weber, wie sie in den amtlichen Unterlagen jetzt genannt wurde - jeder Mensch brauchte einen Namen -, eine Krise durchlebt haben. An der Fixierung auf die vergeblichen Bemühungen, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, drohte sie zu verzweifeln. Scheinbar aus heiterem Himmel erklärte sie dem Psychologen, der Mensch sei nicht dazu geschaffen, immer den СКАЧАТЬ