Grobe Nähte. Johannes Schweikle
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Grobe Nähte - Johannes Schweikle страница 5

Название: Grobe Nähte

Автор: Johannes Schweikle

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

Серия:

isbn: 9783520754912

isbn:

СКАЧАТЬ Italien.

      DER SOMMER WAR GROSS. Er ging zu Ende, und die Ferien auch. Die Hitze wurde erst am Abend erträglich. Eva und Korbinian Moser saßen auf dem Balkon über dem Innenhof. Eiswürfel klackerten im Gin Tonic, die Geräusche der Stadt drangen gedämpft zu ihnen. Das Licht fiel schräg auf Ziegeldächer, München leuchtete in warmem Rot. Eva klappte den Laptop auf und zeigte Bilder. Eine Flut, weder sortiert noch bearbeitet, nur schnell von der Kamera auf den Computer kopiert. Korbinian war kein aufmerksamer Betrachter. Wenn die Fotografin dem Autor ihre Arbeit präsentierte, sagte sie meist nach ein paar Minuten resigniert: Gell, das interessiert dich nicht.

      Aber jetzt kamen seine Augen nicht vom Bildschirm los.

      Genau genommen hatte dieser Tag schon am Abend davor begonnen. Im Fernsehen hatte man auf allen Kanälen den Hauptbahnhof gesehen. Endlich lag München mal wieder im Zentrum des Interesses. Ganz Deutschland und die halbe Welt schauten auf diese Stadt. Da hatte Korbinian eingewilligt: Um die Betreuungslücke zu schließen, nimmt er morgen die Kinder. Ruft vor der Konferenz in der Redaktion an und gibt Bescheid, dass er zu Hause schreibt.

      Die ersten Bilder zeigen Absperrgitter. Viel Flatterband, rot-weiß. Der Bahnhof ist geteilt. Polizisten sichern einen Zaun, aber das wäre gar nicht nötig. Ein blondes Mädchen streckt einen Löwen aus Plüsch durch die Stäbe, auf der anderen Seite strahlt ein Kind mit dunklen Augen. Ein Gwamperter mit Schnauzbart, blauweiß kariertes Hemd, wohl Münchner, spreizt Zeige- und Mittelfinger, Victory! Ein Transparent wird hochgehalten: Refugees welcome!!!, drei Ausrufezeichen sind in Herzform gemalt. Die vielen Augen auf der anderen Seite des Zauns sind sich nicht einig. Sie blicken fassungslos, skeptisch, ungläubig, euphorisch. Ein junger Mann, schwarze Stoppeln im eingefallenen Gesicht und Ringe unter den Augen, erfasst die Situation. Hält sein Handy hoch und filmt die Begeisterung der Deutschen. Auf der einen Seite Gedränge und Männerüberschuss, auf der anderen werden Rollkoffer über leere Bahnsteige gezogen. An Gleis 18 viele Uniformen, dort mischen sich die beiden Gruppen. Augenscheinlich friedlich. Eva erklärt: Die Bahn hat den ICE nach Berlin geräumt. Mit diesem Zug wurden 650 Asylbewerber weiter transportiert. Und schau dir das an: Das mittlere Management entdeckt sein Herz! Sie zeigt auf einen Mann mit Boardcase und Slimfit-Anzug, der gemeinsam mit dem Schaffner entspannt den Fahrplan studiert, auf der Suche nach einer Ersatzverbindung.

      Unglaublich, sagt Korbinian staunend, das ist ja wie beim Sommermärchen. Nur ohne Trikots und Schwarz-Rot-Gold. In seinem Kopf überlagern sich Bilder: die finsteren aus Ungarn, überstrahlt von der Menschlichkeit in München. Boote auf dem Mittelmeer kurz vor dem Kentern. Die Festung Europa. Und hier öffnet sich das Tor der Hoffnung. Sein Kampf gegen das moralische Versagen der Politik, die vielen Artikel, jetzt haben sie doch etwas bewirkt und harte Herzen erweicht.

      Außerdem fühlt sich Korbinian Moser bestätigt in manch weiterer Überzeugung: Der Österreicher neigt zur Niedertracht. Bayern ist nicht gleichzusetzen mit Deutschland, und München schon gar nicht. Sogar dem Wahnsinn der Bürokraten in Berlin und Brüssel kommen wir bei. Wenn wir nur wollen.

      Der Platz vor dem Bahnhof ist so nichtssagend wie immer. Die Nachkriegsfassade. Angestaubtes Türkis. Kaputte Jalousien vor großen Fenstern. Fahrrad-Zombies an Geländer gekettet. Touristen, große Stadtrundfahrt im Doppeldecker. Aber unter den Oberleitungen der Trambahn taucht eine neue Farbe auf: Lila. Ein Hauch von Kirchentag. Helfer mit lila Westen im Gewusel. Sie tragen Schutzhandschuhe aus Gummi, verteilen Wasser in Plastikflaschen. Apfelkisten, Bananenkartons. Unter einem Zeltdach werden Kleiderspenden sortiert, von Freiwilligen mit Mundschutz. Links Markenklamotten, Cityhemden, noch in Folie verpackt. In der Mitte wird ein breiter Jeansrock hochgehalten, frühe Achtziger. Rechts ein grober Haufen: zerrissene Hosen, speckige Pullover, kaputtes Spielzeug, auch das wurde gespendet. An der Marmorfassade, die das halbscharige Einkaufszentrum verkleidet, lehnt ein Plastikschlitten. Er hat einen Riss.

      Überall Anstecker: Wir helfen. Flüchtlinge werden auf Busse verteilt. Sobald einer voll ist, füllt sich der nächste. Irgendwann steht kein Bus mehr da. Aber immer noch Flüchtlinge. Ein Zug formiert sich, vielleicht dreihundert Menschen, zu Fuß gehen sie Richtung Notunterkunft. Lila Westen vorn, lila Westen hinten. Die Kolonne gerät ins Stocken. Helfer fuchteln, einer zeigt auf eine Gruppe, die ausschert. Zwei Dutzend Männer stürmen den Handyshop. Einer hat sein Bündel unter den Arm geklemmt, ein anderer schiebt einen zerschrammten Koffer vor sich her. Alle brauchen das gleiche: eine SIM-Karte. Als jeder sein Telefon geladen hat, kommt von hinten das Zeichen: Weiter! Die Dachauer Straße runter, dann abbiegen in die falsche Richtung. Nicht zum Maximiliansplatz, sondern nach links. Über die offene Grenze in die Schmuddelecke. Kebab, Wechselstube, Nagelstudio. Die Läden wiederholen sich, dazwischen ein Leihhaus und die Caritas. Ein Stück weiter die Traditionsbrauerei, die ihr Bier noch immer hier braut, wie im 19. Jahrhundert, in teurer Citylage, kein Makler versteht diesen Wahnsinn. Ein Autohaus, das abgerissen werden soll. Im kahlen Verkaufsraum stehen Bierzeltgarnituren, von der Brauerei unbürokratisch zur Verfügung gestellt. Nackte Kabel hängen von der Decke, die Volxküche verteilt Essen. Mit Brot wird Soße von einem Pappteller getunkt.

      Eva Moser war noch nie zu Fuß in dieser Gegend. Auch mit dem Rad meidet sie das Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Es gibt keinen Grund, sich hier aufzuhalten. Da findet sich nichts Schönes, die Straßen sind auf Funktionalität reduziert, sie taugen nur als Schleichweg mit dem Auto, wenn die Innenstadt mal wieder verstopft ist. Links der Bayerische Rundfunk, rechts die CSU. Korbinian Moser sagt sarkastisch: Respekt, du warst im Herz der Finsternis!

      An der Donnersberger Brücke werden Zelte aufgebaut. Irgendwie hat die Stadt Feldbetten beschafft, aus Frankreich. Wo der Mittlere Ring die Bahngleise kreuzt, wo der Verkehr am dichtesten ist, finden 1000 Flüchtlinge eine Notunterkunft. Der Bürgermeister schaut vorbei und staunt. Was seine Bürger schaffen, und wie dankbar die Fremden sind. Ein Syrer möchte unbedingt ein Selfie mit ihm machen, der OB strahlt. Er weiß nicht, wo er weitere Zelte auftreiben soll. Aber jetzt freut sich der Herr der Verwaltung einfach über die euphorische Tatkraft der Helfer.

      Es ist dunkel geworden. Von seinem Balkon kann Korbinian Moser den Efeu im Innenhof nicht mehr erkennen. Wohlig sitzt er in der Wärme, die jetzt genau richtig ist, er braucht keine Jacke. Nimmt noch einen Schluck Gin Tonic. Saugt am Trinkhalm, es gibt ein schlürfendes Geräusch im leeren Glas. Er sitzt links neben Eva und legt seine Hand auf ihre rechte Schulter. Versucht, sie im Sitzen zu umarmen, und sagt überwältigt: Wir sind Weltmeister in Humanität!

      MITTEN IM AUSNAHMEZUSTAND beruhigt der Bürgermeister seine Münchner. In zahllosen Interviews zieht er Grenzen: So lang das Oktoberfest dauert, werden keine Züge mit Flüchtlingen im Hauptbahnhof einlaufen. Und die Zelte der Theresienwiese kommen nicht als Notunterkünfte infrage.

      So steigen sieben Frauen unbeschwert in die U-Bahn. Alle sind um die achtzehn, sie tragen Dirndl von schwarz bis pink. Jede hat lang an ihrer Frisur gearbeitet. Eine Flasche Rosésekt kreist. Der Wagen ist voll, aber das macht nichts. Sie reden, als ob sie unter sich wären.

      Eine schielt in die Bluse der anderen und sagt: Mensch, du hast ja keinen BH an – und hast trotzdem mehr als ich.

      Ich hab halt generell viel.

      Ist Tanja eigentlich bi?

      Sie sagt, sie sei noch Jungfrau.

      Im Chor, als Refrain: Du musst aufhörn, weniger zu trinken!

      Am Michaelibad steht ein junger Mann auf dem Bahnsteig. Schwarzes, leicht gelocktes Haar, verlorener Blick, das Gesicht und die sehnigen Arme begehrenswert braun.

      Mei, schaut der lieb aus! Kommt der aus Afghanistan?

      Hoffentlich haben sich die Italiener auf der Wiesn im Griff!

      VON DER BASSPOSAUNE HAB ICH MIR DEN GOLF GELIEHEN, einen alten Diesel, wir Tiefen halten zusammen. Um halb sieben bin ich in der СКАЧАТЬ