Название: Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit
Автор: Tanja Rinker
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823303244
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Wenden wir uns im Folgenden noch einmal den anderen Wortbildungstypen zu. Besonders „berüchtigt“ ist die deutsche Sprache für ihre starke Neigung zur KompositionKomposition (Roelcke 2011: 56). Auf eindrückliche Weise zeigt sich vor allem bei diesem Wortbildungstyp ein Hang zu komplexen Wortkonstruktionen. Man vergleiche hierfür nur einmal die Konstruktion Unabhängigkeitserklärung mit der englischen Entsprechung Declaration of Independence. Die meisten Lernenden zeigen sich überrascht, was das Deutsche für „Bandwurmwörter“ hervorbringen kann, und wissen nicht recht, wie sie damit umzugehen haben.
Ausgehend von einfachen, häufig gebrauchten Komposita (weinrot, Rotwein, Haustür), lassen sich zunächst die Grundregeln der KompositionKomposition vermitteln. So bestimmt das rechtsstehende Element nicht nur die WortartWortart sondern auch die Flexionsklasse. Daher lassen sich Übungen mit N+N-Komposita auch gut verbinden mit Übungen zum grammatischen Geschlecht: das Haus + die Tür → die Haustür (zur Genuskategorie siehe auch 4.2.1).
Die Bedeutung eines Kompositums aus seinen Bestandteilen zu ermitteln, ist oft gar nicht so leicht. So lässt sich bei dem Kompositum „Lernwiese“ ohne Kontext nicht entscheiden, ob dies eine Wiese ist, auf der man lernt oder aber eine Wiese, an der man etwas lernt oder ob möglicherweise eine uns im Moment noch gar nicht in den Sinn kommende Lesart die zutreffende ist (Fandrych & Thurmair 1994: 37). Heißt das dann aber, dass wir den Deutschlernenden für die Interpretation eines Kompositums der Form AB lediglich eine ganz allgemeine Erschließungsregel wie etwa „B hat irgendetwas mit A zu tun“ (ebd. 36) mit auf den Weg geben können? Mit den Aufgaben 3 und 4 (am Ende dieses Kapitels) soll dieser Frage nachgegangen werden.
Ab einer Dreigliedrigkeit ist bei der Interpretation zudem zu überlegen, welche der Teile sich wohl zuerst verknüpft haben und damit in engerer morphologischer sowie semantischer Verbindung stehen. Nicht immer liegt der Fall so klar wie bei Haustürrahmen oder Haustürschlüssel, vgl. Abb. 3.1. Handelt es sich beispielsweise bei Frauenfilmfestival um ein Festival, auf dem Frauenfilme gezeigt werden oder ist es ein Filmfestival, das sich speziell an Frauen richtet?
Binäre Struktur für das dreiteilige Kompositum Haustürschlüssel
Für viele der in Tab. 3.1 aufgeführten Derivations- und Konversionsmuster bieten sich in der Unterrichtsinteraktion durch eine spezifische Inputgestaltung vielfältige Möglichkeiten, die Lernenden auch implizit an Wortbildungsmuster heranzuführen, wie die zwei Redeauszüge in (7) und (8) illustrieren sollen. Der erste Auszug ist geeignet für SprachanfängerInnen im Kontext handlungsbegleitenden Sprechens und der zweite für fortgeschrittene Lernende.
(7) | Jetzt müssen wir an jeder Seite noch ein Loch reinmachen. Wir müssen das Papier an jeder Seite lochen. Und dafür nehmen wir den Locher. (Bischoff & Bryant 2020: 326) |
(8) | Wir wollen heute mal versuchen, eine ganz besonders schwierige Aufgabe zu lösen . Sie ist schwierig, aber lösbar . Das heißt man kann es schaffen, sie zu lösen . (…) Ok, jetzt haben wir die Lösung gefunden – wir haben die schwierige Aufgabe gelöst . Ich schreibe die Lösung oder am besten gleich den ganzen Lösungsweg nun noch mal an die Tafel. Nächste Woche bringe ich uns wieder eine schwierige, aber lösbare Aufgabe mit. |
Der Auszug in (8) enthält mit lösbar, Lösung, Lösungsweg drei Wortbildungsprodukte zum Verb lösen und sensibilisiert zunächst einmal für Wortverwandtschaften. Die Lernenden nehmen den gleichen StammStamm in verschiedenen Kontexten war. Auf ähnliche Weise würde man in anderen Situationen weitere Instanzen der -bar und -ung-Derivationen verwenden, um beim Lernenden erst einmal mehrere Vertreter eines Wortbildungsmusters mental zu verankern und möglicherweise erste Wiedererkennungseffekte zu stimulieren.
Die (vermutlich) noch als unanalysierte ganze Einheiten (als Chunks) wahrgenommenen Wortbildungsprodukte können dann zu gegebener Zeit zusammen mit weiteren nach dem jeweiligen Muster gebildeten Beispielen wieder aufgegriffen werden, um nun gezielt den Analyseprozess anzustoßen bzw. voranzubringen. Durch das Präsentieren mehrerer Vertreter eines Wortbildungsmusters wird der/dem Lernenden die Struktur des komplexen Wortes bewusst und spezifische Regularitäten können erkannt werden, wie etwa die WortartWortart der Basis und die Wortart des Derivats. Sprachspiele, die sich überdies sehr leicht mit Wortschatzarbeit verbinden lassen, eignen sich hervorragend, um das jeweils zugrundeliegende Bildungsmuster zu durchschauen und zu verinnerlichen, vgl. Tab. 3.2. Anschließend könnte man gemeinsam eine Wortbildungsregel formulieren und die Funktion und Bedeutung des Suffixes -bar reflektieren.
Fragen nach dem Muster: | Antworten nach dem Muster: |
Was kann man essen? / Was ist essbar? | X kann man essen. / X ist essbar. |
mit (oder ohne) Vorgabe von einzusetzenden Objekten | |
weitere Verben: trinken – waschen – abschließen – genießen – lesen – … |
Tab. 3.2:
Übungsvorschlag zur DerivationDerivation mit -bar
Bei einer Wiederholung des Sprachspiels könnte man Objekte vorgeben, die unterschiedliche Ansichten evozieren und zu Diskussionen anregen, bei denen die Zielstrukturen dann in authentischen Kontexten Anwendung finden (z. B. nicht genießbar, weil …; genießbar nur, wenn ...).
Sind die Lernenden einigermaßen vertraut mit besonders häufig vorkommenden Wortbildungsmustern, geht man zu komplexeren Wörtern über, die das Produkt mehrerer verschiedener Wortbildungsprozesse sind. Da es deutschen MuttersprachlerInnen oft gar nicht bewusst ist, wie viele und welche Wortbildungsoperationen in einem rezipierten oder selbst produzierten Wort stecken, soll der nächste Absatz einmal beispielhaft für die morphologische Komplexität sensibilisieren, mit der wir täglich umgehen und an die auch die Deutschlernenden sukzessive heranzuführen sind, damit sie sich selbstständig komplexe Wörter in Zeitungen oder Lehrbüchern erschließen können. Als Beispiel sei das bereits am Anfang erwähnte Wort Unabhängigkeitserklärung gewählt. Tab. 3.3 schlüsselt auf, welche Prozesse hier involviert sind.