Название: Achtsamkeit Bd. 1
Автор: Joseph Goldstein
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783867287630
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All dies führt zu der interessanten Frage, inwieweit wir uns in der Praxis und in dem Verständnis unserer Meditation mit Konzepten befassen. Einerseits möchten wir eine Achtsamkeit entwickeln, die reines Erkennen ermöglicht – wozu vermutlich ein Geisteszustand nötig ist, der nicht von Konzepten überlagert wird. Andererseits ist der Faktor der Wahrnehmung mit allen daran hängenden Konzepten eine unmittelbare Ursache für die Entstehung von Achtsamkeit.
Die Lösung für diese scheinbar widersprüchlichen Ansichten liegt in einem tieferen Verständnis der Wahrnehmung. Wahrnehmung gehört zu jedem Augenblick des Bewusstseins. Geschieht Wahrnehmung ohne eine stark entwickelte Achtsamkeit – was die Art ist, wie ein ungeübter Geist gewöhnlich durch die Welt geht –, dann erkennen und erinnern wir nur die oberflächliche Erscheinung der Dinge. Im Moment des Erkennens geben wir dem, was sich zeigt, einen Namen oder ordnen ihm ein Konzept zu. Damit beschränken, verschleiern und verfärben wir unsere Erfahrungen.
Ein Beispiel für solch ein beschränktes Wahrnehmungspotenzial zeigt sich in der Geschichte, die mir eine Freundin von ihrem Sohn Kevin erzählt hat. Als Kevin sechs Jahre alt war, stellte die Lehrerin in der Schule eine einfache Frage: »Welche Farbe hat ein Apfel?« Die Schüler antworteten: »Rot«, »Gelb«, oder: »Grün.« Aber Kevin sagte: »Weiß.« Die Lehrerin versuchte, durch weitere Fragen und Bemerkungen Kevin zu einer richtigen Antwort zu bewegen. Kevin ließ sich jedoch nicht umstimmen und sagte schließlich mit einer gewissen Frustration: »Jeder Apfel ist doch innen immer weiß!«
Wahrnehmung kann auch der Stärkung von Achtsamkeit und Gewahrsein dienen. Konzepte können unsere Sicht auf die Dinge nicht nur einengen – richtig angewandt, können sie die momentane Erfahrung auch in ein Licht rücken, welches eine tiefere und sorgfältigere Betrachtung ermöglicht. Es ist, als würde man ein Bild rahmen, um es besser sehen zu können. Ein buddhistischer Mönch namens Ñāṇananda nannte es: »Um des höheren Zwecks der Entwicklung von Weisheit willen Konzepte einsetzen, die dann dabei selbst transzendiert werden.«
MENTALES BENENNEN
Die Idee, Konzepte zur Entwicklung von Weisheit einzusetzen, bildet auch die Grundlage der meditativen Technik des mentalen Benennens. In dieser Technik verwenden wir ein Wort, manchmal auch einen kurzen Satz, um das zu bezeichnen, was sich gerade zeigt. Dieses mentale Etikett – zum Beispiel »ein«, »aus«, »ein«, »aus«, »Denken«, »Schwere«, »ein«, »aus«, »Unruhe« – fördert das klare Wahrnehmen, was wiederum sowohl das achtsame Gewahrsein des Augenblicks stärkt als auch das Momentum der Kontinuität. Oder, wie Ajahn Sumedho, einer der ersten westlichen Schüler des großen thailändischen Meisters Ajahn Chaa, bemerkte: »Der Atem ist so«, »Schmerz ist so«, »Ruhe ist so.«
Das Benennen kann der Praxis auch auf andere Weise dienen. Allein der Tonfall des innerlichen Benennens kann unbewusste Haltungen verdeutlichen. Wir haben die innere Ungeduld, Frustration oder Freude vielleicht gar nicht bemerkt, während wir erfahren, wie sich verschiedene Dinge zeigen, bis wir den angespannten oder begeisterten Tonfall unserer inneren Stimme hören. Das Benennen hilft auch, unsere Identifikation mit der Erfahrung zu mindern, sowohl angesichts von Hindernissen als auch, wenn unsere Praxis sehr subtil und verfeinert geworden ist.
Das mentale Benennen liefert uns ein wichtiges Feedback: Sind wir wirklich auf kontinuierliche Weise präsent oder nicht? Üben wir, unser Sitzen beziehungsweise unseren Tag nahtlos ineinanderfließen zu lassen? Verstehen wir in unserer Anwendung der Achtsamkeit den Unterschied zwischen Lässigkeit und Entspannung? Wir sollten unsere starke Absicht, achtsam zu sein, nicht zu grimmig verfolgen. Wir können die Kontinuität der Achtsamkeit mit der Anmut von Tai-Chi-Bewegungen oder einer japanischen Teezeremonie praktizieren, indem wir uns selbst den kleinen regelmäßigen Alltagsaktivitäten zuwenden. Diese Kontinuität ist wichtig, weil durch sie das energetische Momentum aufgebaut wird, das zur Verwirklichung von Nibbāna erforderlich ist.
Dabei sollte immer bedacht werden, dass dieses Werkzeug des mentalen Benennens einfach ein geschicktes Mittel ist, um uns in unserer Achtsamkeit zu unterstützen – es ist nicht das, worum es eigentlich geht, nämlich einfach bewusst zu sein. In vielen buddhistischen Traditionen wird diese Technik nicht verwendet. Aber sie ist es wert, ausprobiert zu werden, und sei es auch nur für kurze Zeit, um herauszufinden, ob sie der eigenen Praxis zuträglich ist oder nicht.
Wir sollten uns auch ihrer Grenzen bewusst sein. Das Benennen sollte sich nicht zu einer intellektuellen Reflexion auswachsen, sondern auf ein einfaches, stilles Wort beschränkt bleiben. Der bekannte buddhistische Gelehrte David Kalupahana erklärt, dass ein Meditierender im Rahmen von Satipaṭṭhāna Konzepte nur so tief ergründen sollte, wie es zu Erkenntnis führt, und nicht darüber hinaus. »Denn Vorstellungen, die über ihre Grenzen hinaus verfolgt werden, können zu substanzialistischer Metaphysik führen.«3 Konzepte, die zu weit verfolgt werden, verfestigen unsere Sicht der Realität und sperren uns in selbstgemachte Käfige.
Mit zunehmender Achtsamkeit bemerken wir vielleicht zu viele Dinge, als dass wir sie benennen könnten. Die Objekte verändern sich so schnell, dass wir gar nicht mehr die Zeit haben, sie zu benennen. In dieser Situation beginnen die Benennungen wegzufallen. Wenn das Gewahrsein gut etabliert ist und Achtsamkeit von alleine entsteht – was wir das mühelose Bemühen nennen könnten –, dann können wir einfach in der Kontinuität des reinen Erkennens verweilen. Ryokan, ein Zen-Meister, Dichter und Wandermönch aus dem 19. Jahrhundert, drückte es so aus: »Erkenne deinen Geist genau so, wie er ist.«
UNABHÄNGIGES VERWEILEN
Die letzte Zeile des Satipaṭṭhāna-Refrains verbindet die Praxis der Meditation mit ihrem Ziel: »Und er verweilt unabhängig, an nichts in der Welt haftend.« Diese Zeile umfasst den gesamten Weg.
»Unabhängig verweilen« bezieht sich darauf, dass der Geist an keiner Erfahrung anhaftet, sei es durch Verlangen oder durch Ansichten. »Verlangen« oder »Begehren« sind die üblichen Übersetzungen des Pali-Wortes Taṇha; zuweilen wird es auch mit »Durst« übersetzt, was mehr der körperlichen Dringlichkeit dieses machtvollen Geisteszustands entspricht. In späteren Kapiteln werden wir dieses Verlangen, diesen Durst genauer ergründen, um zu erkennen, wie es sich manifestiert und uns in einem Zustand der Abhängigkeit hält, sowohl in unserer Meditationspraxis als auch im alltäglichen Leben.
Auf einer gewissen Ebene sind Geburt und Tod, Existenz und Nicht-Existenz, »selbst« und »andere« die großen, bestimmenden Themen unseres Lebens. Auf einer anderen Ebene gelangen wir jedoch zu der Erkenntnis, dass jede Erfahrung nur eine Aufführung leerer Erscheinungen ist. Diese Erkenntnis führt uns zum anderen Aspekt des »unabhängigen Verweilens, An-nichts-in-der-Welt-Haftens«, nämlich dem Nicht-Anhaften an Ansichten, insbesondere der Ansicht über das Selbst.
Wenn wir in unserem normalen Wahrnehmungsmodus sehen, hören, riechen, schmecken oder spüren oder wenn wir Dinge kognitiv begreifen, entsteht sofort das irrige Empfinden von »ich« und »mein«: »Ich sehe«, »Ich höre.« Dann kommen wir irgendwann zu »Ich meditiere«, mit Nebenwirkungen wie »Ich meditiere gut (oder schlecht)« beziehungsweise »Ich bin ein guter (oder schlechter) Mensch«. Wir errichten auf den momentanen, veränderlichen Bedingungen einen ganzen Überbau des Selbst.
DAS BAHIYA SUTTA
In einer kurzen und befreienden Lehre, dem Bahiya Sutta oder der Lehrrede an Bahiya, zeigt der Buddha den Weg zur Befreiung von dieser Abhängigkeit durch Ansichten über das Selbst. Es heißt, zu Lebzeiten des Buddha erlitt ein Mann namens Bahiya an der Südküste Indiens Schiffbruch. Er verlor alles, sogar seine Kleidung, und СКАЧАТЬ