Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli
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Название: Gefangen im Gezeitenstrom

Автор: Robert S. Bolli

Издательство: Автор

Жанр: Короткие любовные романы

Серия:

isbn: 9783960087960

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СКАЧАТЬ Dafür variieren die Anstriche der Fensterläden von tannengrün bis dunkelbraun. Je nach Budget und Fantasie der Bewohner sind auch die kleinen Gärten gehalten: Meist dominieren Gemüsebeete und Beerensträucher, aber auch einfache Kiesflächen mit urtümlichen Wäscheleinen sowie üppig blühende Blumenrabatten lassen sich in unserem Quartier finden.

      Peter Ambühl, mein Großvater, war bis kurz vor seinem Abgang Fahrdienstleiter bei den Bundesbahnen. Besuchern zeigt er jeweils gerne und mit Stolz seine schwarze Uniform und besonders seine Mütze mit dem Emblem der Gesellschaft und den weißen Streifen, die ihn im Rang eines Bahnhofsvorstandes bestätigten. Er hatte in sämtlichen Stationen an der Hauptstrecke nach Zürich gedient, oftmals auch als Ablöser, und später, im Laufe der Umstrukturierungsmaßnahmen, als die SBB in eine Aktiengesellschaft überführt und immer weitere Strecken automatisiert beziehungsweise Stationen auf Fernsteuerung umgestellt und Fahrkartenschalter durch Ticketautomaten ersetzt wurden, rückte auch Peters Arbeitsbereich in greifbare Nähe. Ganz zuletzt wurde ihm noch ein Posten in der Einnehmerei im Bahnhof unserer Stadt angeboten. Aber diesen Job verrichtete er nur noch ein knappes Jahr lang, dann begab er sich, mit einem ärztlichen Attest in der Hand, in Frührente. Das geschah kurz nach einem leichten, aber doch deutliche Zeichen setzenden Herzanfall. Und diesem ging der schmerzvolle Verlust seiner geliebten Hannelore – meiner Oma – voraus, die von einem unheilbaren Krebsleiden befallen wurde. Damit begann der langsame und unerbittliche Zerfall von Peter Ambühl. Anstatt sich noch einmal aufzuraffen, sich eine vernünftige Freizeitbeschäftigung anzueignen, zum Beispiel Reisen oder Wandern, was für die körperliche und geistige Fitness von Vorteil gewesen wäre, vielleicht Tontaubenschießen oder doch wenigstens Briefmarkensammeln, liegt er nur noch auf dem Diwan herum, sitzt stundenlang vor der Glotze oder unterhält sich mit Hörfunksendungen auf SRF 1, was immerhin seine Fantasie ein wenig ankurbeln mag.

      Doch einem bescheidenen Hobby ist Peter zeitlebens treu geblieben. Er ist leidenschaftlicher Pfeifenraucher – sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die Opa zum Rauchen erbarmungslos vors Haus schickt. Sie findet, so ein Buschfeuer, wie sie das Pfeifenrauchen abschätzig nennt, gehört nicht in den Wohnbereich. Für ihren Zigarettenkonsum erlässt sie großzügige Ausnahmen. In den warmen Sommermonaten ist das für ihn kein Problem. Dann geht er in den Garten und setzt sich auf die alte, ursprünglich rot lackierte, nun aber verwitterte Sitzbank. Sobald die Tage jedoch kälter werden, drängt es ihn, im Haus zu bleiben. Meine Mum quittiert es mit diskreditierenden Blicken und oft deckt sie Opa mit einem Wortschwall auserlesener Flüche und weiteren Obszönitäten ein. Opa wiederum grunzt und schnaubt, murmelt etwas wie „Dumme Kuh!“ und trollt sich mit seiner geliebten Pfeife ins Bad. In der Kommode, die in der kleinen Stube steht, hortet er eine bescheidene Sammlung dänischer und holländischer Tabakpfeifen, deren Formenvielfalt mich schon als Kind stets fasziniert hat. Damals hat er mir auch gezeigt, wie man die Pfeifen korrekt stopft. Er verwendet bis heute unter anderem diese fein geschnittenen, parfümierten holländischen Tabake, die ich wegen ihres süßlichen Aromas besonders mag.

      Vor ein paar Jahren habe ich, zusammen mit Charly, unseren Einstand als frischgebackene Teenager gefeiert, indem ich eine von Opas Pfeifen und eine Dose Tabak aus der Schublade klaute und Charly seinen Beitrag in Form eines kleinen, weißen Leinenbeutels leistete, mit etwas Getrocknetem darin, das er Mariejohanna oder so ähnlich nannte. Dass es sich tatsächlich um Marihuana handelte, das er seinem Alten abgeluchst hatte, erfuhr ich erst später. Jedenfalls sind wir eines Abends bei Wind und Wetter losgezogen. In einem alten Bushäuschen einer aufgehobenen Linie haben wir es uns gemütlich gemacht, so gut es ging. Wir haben alles ausprobiert. Zuerst nur Tabak, dann nur Gras, dann gemischt. Dazu tranken wir geklautes Dosenbier. Anschließend mussten wir zwar kotzen, aber – und das war das Wichtigste – danach fühlten wir uns großartig. In dieser Nacht waren wir unsterblich! Trotzdem haben wir beide die Sache mit der Pfeife schon bald aufgegeben. Das Herumschleppen aller Raucherutensilien schien uns doch zu aufwändig. Außerdem stieß etwas später noch Kai-Uwe zu unserer Clique, der seinen Einstand in derselben mit einer Shishaparty in der Attikawohnung feierte, mit einer reich verzierten Wasserpfeife, die er Ali, dem der Dönerladen beim Bahnhof gehört, für etwas mehr als ein Taschengeld abgerungen hatte.

      Opas dürftige Beschäftigungen können in keiner Weise verhindern, dass er langsam, aber stetig in ein schwarzes Loch tiefster Depressionen fällt, aus dem er nie mehr herausfinden wird. Mit zunehmendem Medikamentenkonsum muss sich offenbar auch sein Verstand allmählich verabschiedet haben. Seit etwa zwei Jahren spricht er des Öfteren mit Oma. Und wenn gelegentlich ein Hauch von Bewusstsein die Schleier durchdringt, die seinen Geist umnebeln, setzt er weiterhin unerbittlich seine Monologe mit sich selbst fort. Vielleicht ist das auch ganz okay. So kann er wenigstens den grauen Alltag und seine triste Einsamkeit mit etwas Farbe überpinseln. Das ist jedenfalls meine Meinung. Kosmetik ist allemal besser als gar nichts. Denn Peter hat keine Freunde mehr. Alle haben sich rar gemacht, wollen nichts mit einem psychisch Kranken zu tun haben. Eigentlich hat er nur noch Gertrud, so heißt meine Mutter, und mich und seine Erinnerungen. Gespeicherte Essenzen. Konzentrat eines gelebten Lebens, und doch nur verblassende Gedanken, verebbende Wellen, verflüchtigend wie Parfüm auf spröder Haut.

      Klar bekommt er vom Unternehmen eine für seine Verhältnisse recht ansehnliche Rente, jedoch weder die Erinnerungen noch sein Stolz können verhindern, ja, können in keiner Weise die Tatsache überspielen, dass er ein Opfer der Sparmaßnahmen ist. Gesundschrumpfen nennt man das in Fachkreisen. Es gebe keine Entlassungen, hieß es damals aus der Direktionsetage. Man wolle die wirtschaftlichen Ziele durch natürliche Abgänge erreichen. In Wahrheit wurden die Arbeitsbedingungen derart unattraktiv gestaltet, dass so mancher freiwillig und vorzeitig das Handtuch schmiss. Ich nenne das aus dem Betrieb wegamputiert, als gelte es, angeblich gesundes Fleisch vor dem Verfaulen zu bewahren.

      Das einzig Richtige, was mein Opa noch vor seinem Fall in die Dunkelheit getan hat – also noch zu Lebzeiten von Hannelore – war der günstige Erwerb der Liegenschaft, um sich und der Familie so die Existenz oder wenigstens die Grundlage dazu zu sichern.

      Kurz nach dem Tod von Hannelore packte Gertrud, seine einzige Tochter, die Gelegenheit beim Schopf und zog ins Haus ein. In der linken Hand einen großen Koffer schleppend, mit der rechten einen Kinderwagen schiebend. Der Koffer enthielt ihre Klamotten und ein paar Habseligkeiten, der Typ in der Karre war ich. Für meine Mum – wie ich Mutter seit einem Jahr nun nenne – war der Umzug zu Opa damals sicher die einfachste Lösung, aber für sie auch die schlechteste.

      Eigentlich wäre sie eine blitzgescheite Frau. Ja, sie wäre intelligent genug gewesen, die Matur zu schaffen. Sie hätte alle Möglichkeiten gehabt, zu studieren – Sprachen, Medizin, Reisen, die Welt zu entdecken und vielleicht im fernen Afrika in irgendeinem Buschkrankenhaus als Krankenschwester zu dienen. Vielleicht einmal eine eigene Praxis, eine eigene Pflegestation zu gründen, damit auch die verarmte Bevölkerung auf dem Lande eine medizinische Grundversorgung erhalten würde.

      Gewiss hätte sie einen tollen Kerl heiraten können. Einen von der Uni. Einen Akademiker. Vielleicht einen Arzt oder einen Juristen. Eventuell einen Archäologen. Jedenfalls so einen gescheiten Typen, mit dem sie auch Abenteuer hätte bestreiten können. Einen, der ihre Interessen wahrgenommen hätte. Einen, der sie auf ihren Reisen um den Globus begleitet hätte; und ins Theater oder ein Konzert. Einen, mit dem sie auch einmal hätte zanken können. Einen, der auf den Tisch gepoltert und deutlich seine Meinung gesagt hätte. Aber auch einen, der hätte scherzen können; und der sie zärtlich in die Arme genommen, liebkost, geküsst und geliebt hätte.

      Stattdessen beging sie den größten Fehler ihres Lebens und band sich an diesen widerlich schleimigen Typen, einen Versicherungsagenten, dessen Namen ich nie, trotz all der Jahre ohne ihn, vollständig aus meinem Gedächtnis werde tilgen können, mit dem sie kurz nach der Trauung, in einem Anfall von jugendlicher Naivität, mich gezeugt hatte. Manche mögen es Unfall nennen. Ich betrachte die ganze Beziehung, so kurz sie auch dauerte, nicht nur als unglücklich, in Tat und Wahrheit war sie die reine Katastrophe.

      Ein paar Monate später – ich glaube, ich war damals etwa ein halbes Jahr alt – angelte sich Alex, so nennt СКАЧАТЬ