Название: Gefangen im Gezeitenstrom
Автор: Robert S. Bolli
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783960087960
isbn:
6
Ich habe mich mit ein paar Beuteln Snacks eingedeckt. Irgendetwas mit Käsearoma und Paprika. Ein weiterer Schultag am Zentrum für Berufsbildung neigt sich dem Ende zu. Mittwochabend. Zirka dreizehn Stunden später werde ich schon wieder auf dem Bau sein. Eigentumswohnungen – gehobener Standard. Plattenbau für diejenigen, die es geschafft haben. Schattenlage, aber Aussicht über die Stadt und Balkone so groß, dass man darauf zu viert Tischtennis spielen kann. Am Kiosk schreite ich zielstrebig zum Kühlregal und schnappe mir eine Dose Energydrink als Stärkung für unterwegs. Damit gehe ich langsam zur Kasse, wo weitere Kunden auf Bedienung warten. Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere. Dann endlich bin ich an der Reihe. Ein unsicheres „Hi!“ kommt über meine Lippen, als ich das Mädchen sehe.
Ein gleichgültiges, abgehacktes „Hi!“ wirft sie mir entgegen, aber mit einer anmutigen Bewegung nimmt sie die Dose und zieht sie über den Scanner. „Ein Franken“, sagt sie im gleichen Tonfall.
Mir schießt das Blut heiß bis in die Ohren. Mein Kopf scheint zu glühen, als sie kurz zu mir hochschaut. Ich stehe wie versteinert da. Sie muss etwa in meinem Alter sein. Vermutlich ist sie eine Schulabgängerin und hat hier kürzlich eine Ausbildung angetreten. Vielleicht auch zehntes Schuljahr, Berufswahlklasse. Schnupperlehre. Jedenfalls etwas, das doch nicht so ganz ihren Erwartungen zu entsprechen scheint.
„Was ist? Hast du kein Geld dabei?“, fragt sie nun etwas ungeduldig.
„Äh, ja … doch … natürlich!“, stottere ich und klaube umständlich ein Frankenstück aus meinem Geldbeutel, das ich ihr mit zitternden Fingern über die Theke reiche.
„Danke“, sagt sie und wirft das Geldstück mit einer gleichgültigen Geste in die Kassenschublade.
Sie sieht wirklich verdammt gut aus. Ihre schulterlangen schwarzen Haare geben den Rahmen für ein wunderschönes, makelloses Gesicht. Auf ihren dunkelbraunen, vollen Lippen hat sie lediglich etwas metallisch glänzendes Lipgloss aufgetragen und an der rechten Augenbraue trägt sie ein Piercing. Dann entdecke ich das Tattoo, das die Innenseite ihres rechten Unterarmes ziert. In der Eile kann ich das Motiv nur flüchtig erkennen. Aber es durchzuckt mich wie ein Blitz. Etwas in der Art eines chinesischen Drachens. Ein anerkennendes „Wow!“ zischt durch meine Gedanken, aber für mehr reicht es nicht. Hinter mir wartet bereits wieder eine ungeduldige Menge Kundschaft. Ein flüchtiges „Tschüss“ gebe ich von mir und schlendere dem Ausgang zu.
Unschlüssig bummle ich über den Platz und biege in die Vorstadt ein. Der Abend ist noch jung und ich habe genügend Zeit, in meinem Plattenladen vorbeizuschauen. Meine linke Hand steckt in der Gesäßtasche, mit der rechten wühle ich mich durch die alphabetisch geordneten CDs. Ich suche keine besondere Scheibe. Ich will auch keine kaufen. Ich brauche nur etwas Zerstreuung. Mit meinen Gedanken schweife ich immer wieder woanders hin – zu dem Mädchen vom Kiosk. Diese Lippen. Das Tattoo. Die anmutige Bewegung mit diesen feinen Händen! Alles an ihr fasziniert mich. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln und ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur eines weiß ich: Ich muss sie unbedingt wiedersehen. Ich verlasse den CD-Shop und peile die Bahnhofstraße an, wo ich den Trolleybus nehme, der mich nach Hause bringt.
„Hallo zusammen!“, rufe ich in den Hausflur hinein, als ich die Eingangstür aufstoße und eintrete. Anstelle eines Grußes dringt das Gequassel des viel zu laut aufgedrehten Fernsehers an meine Ohren. Irgendeine Doku-Soap mit Haustieren flimmert über den Bildschirm. Mein Opa hat sich auf dem Sofa hingelümmelt und starrt wie gebannt auf den TV, als irgendein Tierarzt in irgendeiner durchgestylten Klinik für die Viecher der Schicki-Micki-Elite einem potthässlichen Designerköter ohne Fell, dafür mit spitzen Ohren, aus denen graue Haarbüschel hervorsprießen, eine Spritze mit einem Antirheumatikum verpasst. In China hätte man einem solchen Ding längst eins über die Rübe gezogen und es in die Pfanne gehauen. Soll angeblich vorzüglich schmecken, so an einer braunen Soße, mit Bratkartoffeln, Karotten und Zwiebelringen. Aber das ist nur so eine Vermutung.
„Auf der A4 im Weinland hat es schon wieder gekracht“, lässt nun der Opa als Gruß vernehmen. „So ein Volltrottel hat es doch geschafft, die falsche Auffahrt zu nehmen. Dann gab’s einen Frontalen! – Hast du gehört?“
„Jaah“, sage ich ziemlich gleichgültig.
Offenbar sind das die einzigen Themen, die meinen Großvater interessieren. Menschen und Tiere im TV. Dann kann er sich wenigstens noch einbilden, irgendwie mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen. Egal, es soll ja auch Leute geben, die sich wochenlang Big Brother reinziehen. Das ist doch echt krank.
„Mutter kommt später nach Hause. Sie ist noch für die Büroreinigung weg. In der Pfanne auf dem Herd liegt ein Stück Fleischkäse. Du sollst es dir warm machen, mit einem Spiegelei zusammen, hat sie gesagt.“
Ich bin echt begeistert.
Kürzlich hat sich Mum für einen Job als Putzfrau am Hauptsitz der Regionalbank beworben. Angeblich, um ihr Taschengeld aufzubessern. Sie hat ihn tatsächlich bekommen. Nun ist sie fast täglich, meist in den Abendstunden, mit Papierkörbeleeren, Bodenschrubben und Schreibtischeabwischen beschäftigt. In der Anzeige hieß es: Fachkraft für Büroreinigung gesucht. Neulich, nach der Berufsschule, ich war mit ein paar Kollegen noch kurz was trinken, da habe ich Mums Gärtner mit seinem Pickup vor der Bank vorfahren sehen. Er ist ausgestiegen und drückte einen Knopf in einer Nische neben dem Haupteingang. Nach einer Weile kam Mum zur Tür, hat ihm aufgemacht und ihn hereingelassen. Klar doch, war längst Feierabend und kein Banker mehr dort. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die beiden eine tolle Zeit miteinander verbracht haben. Möglicherweise eine schnelle Nummer auf dem Schreibtisch im Direktionszimmer. Warum auch nicht? Dann soll Mum sich meinetwegen doch gleich als Vaginal-Fachverkaufskraft anbieten. Bestimmt hätte sie ein anständiges Einkommen, bei wesentlich geringerem Arbeitsaufwand versteht sich.
Ich hasse es, wenn mein Opa immer Mutter sagt, egal ob er seine Frau, seine Tochter oder seine wirkliche Mutter meint. Er sieht da keinen relevanten Unterschied. Er gehört eben zu jener Sorte Paschas, die sich bis ins hohe Alter bemuttern lassen wollen. Egal von wem.
„Ach ja, wenn es dir nichts ausmacht: Kannst du mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank bringen?“
„Meinetwegen. Aber trink nicht zu viel. Denk an deine Medikamente!“
„Ja, ja! Alkohol wirkt auch blutverdünnend. Hast du gehört?“
„Hab ich. Du solltest aufpassen, dass deine restlichen Hirnzellen vom Alk nicht verdünnt werden!“
Opa knurrt wie eine in den Arsch getretene Bulldogge und sieht mich abgrundtief verachtend an. Wenn Blicke töten könnten, hätte ich wohl kaum die nächsten Minuten überlebt.
Ich stelle die Dose auf das hölzerne Salontischchen mit den eingelassenen beigefarbenen Fliesen, mit irgendwelchen japanischen Schriftzeichen im Zentrum der Tischplatte. Frühe Siebzigerjahre, wie fast alles in unserem Wohnzimmer. Dunkelbrauner Spannteppich mit mintgrünen Streifchen, unter der Tür abgewetzt und Wellen werfend. Unter dem Tischchen ein kleiner bunter Teppich, billiges Perserimitat aus Otto’s, an den Wänden eine kleine Kommode mit verstaubten Nippes, eine unförmige Vitrine, die vermutlich schon seit sieben Generationen weitervererbt wurde, weil sich bis anhin keiner getraut hat, das hässliche Ding endlich einmal dem Sperrmüll mitzugeben. Aber bestimmt war das Teil СКАЧАТЬ