Название: Auf leisen Sohlen
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520274
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«Das werde ich tun», brummte er, «und zwar, indem ich dich gleich verlasse und zum Fußball gehe.»
Ute lachte bitter. «Gut, dann kann ich ja in Ruhe zu meiner Mutter gehen.»
Mit Letzterer war Ute sowieso zum Kaffeetrinken verabredet. Sie verabschiedete sich mit einem Küsschen und machte sich auf den Weg. Heideblick blieb allein zurück und nahm sich noch einmal die Baupläne und Kalkulationen für «Bad Rudow» vor, wie er das geplante Eigenheim gern nannte. Gott, das war im Augenblick kaum finanzierbar! Doch Ute freute sich so auf ein Haus im Grünen.
Nach einer guten halben Stunde angestrengten Brütens packte er schließlich alle Unterlagen wieder zusammen und verließ die Wohnung, um zum Fußball zu gehen. Fußball war sein Lebensinhalt. Das wussten auch seine Angestellten, die ihm zum fünfzigjährigen Firmenjubiläum eine Zeichnung geschenkt hatten, auf der sein Kopf aus einem Fußball bestand. Als geborener Neuköllner war er eigentlich verpflichtet, Fan von Tasmania 1900 zu sein, die auch gerade wieder Berliner Meister geworden waren. Doch sein Herz schlug mehr für den 1. FC Neukölln, für den er einmal selbst gespielt hatte. Von der Bundesliga hielt er nicht viel, denn Hertha BSC war in der Saison 1963 / 64 gerade einmal auf Platz vierzehn gelandet. Eine Schande für West-Berlin! Deutscher Meister war der 1. FC Köln geworden. Wenn schon nicht Neukölln, dann immerhin Köln, dachte sich Heideblick. Die Ost-Berliner hatte es auch nicht besser getroffen, denn in der DDR war die BSG Chemie Leipzig Meister geworden.
Heideblick erreichte die Haustür und wollte sie schwungvoll aufreißen, doch irgendein Scherzbold hatte sie am helllichten Tage abgeschlossen. Um sie zu öffnen, musste er sein Schlüsselbund aus der Hosentasche ziehen und den Durchsteckschlüssel aus der Halterung lösen. Er verfluchte das Ding, das typisch für Berlin war. Nach dem Aufschließen musste man den Schlüssel durch das Schloss hindurchschieben und die Tür von der anderen Seite wieder abschließen, sonst bekam man den Schlüssel nicht wieder heraus. Nur der Hauswart hatte einen Spezialschlüssel. Also ging der Scherz wohl auf Konto dessen Sohns.
Heideblick besaß zwar zwei mit Reklame verzierte Lieferwagen, doch er hatte nie Lust gehabt, einen Führerschein zu machen. Und seinen Fahrer am Sonntag von Reinickendorf, wo der wohnte, nach Neukölln zu bestellen, hätte nur Ärger gebracht. Heideblick mochte auch nicht zur Haltestelle Sonnenallee, Ecke Hermannplatz gehen, um mit der Straßenbahn 95 zu fahren. Deshalb entschied er sich fürs Laufen. Schließlich tat er somit auch etwas für seine Gesundheit. Die Strecke von seinem Mietshaus bis zum Hertzbergplatz betrug gut zweieinhalb Kilometer. Die schaffte er spielend. Doch die Weserstraße, in die er nach ein paar Schritten einbog, war das, was sein Verkäufer, der aus Bremen stammte, einen «langen Jammer» nannte. Fast schnurgerade zog sie sich vom Kottbusser Damm bis zur Ringbahn am Bahnhof Sonnenallee.
Endlich hatte Heideblick den Hertzbergplatz und mit ihm das mehr als bescheidene «Stadion» des 1. FC Neukölln erreicht und seinen Stammplatz auf der westlichen «Tribüne» eingenommen, einen Stehplatz natürlich. Von hier aus hatte man einen weiten Blick Richtung Osten. Alle naselang tauchten die Maschinen der Pan Am und der BEA am Berliner Himmel auf, scheinbar aus dem Nichts kommend, und hatten schon die Räder ausgefahren, um wenig später in Tempelhof zu landen. Nachdem man West-Berlin eingemauert hatte, waren die drei Luftkorridore in Richtung Nord, West und Süd fast wieder so wichtig wie zu Blockadezeiten.
Jedes Flugzeug habe damit, so hatte es ihm seine vielseitig gebildete Tante Gisela aus Kladow einmal erklärt, die gleiche Bedeutung wie beim Cargo-Kult der Melanesier. Die hätten nämlich, als die ersten Flugzeuge hoch über ihren Köpfen aufgetaucht waren, geglaubt, ihre Ahnen wären aus Gräbern gestiegen, um ihnen wertvolle Waren aus dem Westen zu bringen.
Das Spiel begann, und Heideblick feuerte die «95er» in ihren blauen Hosen und gelben Hemden nach Kräften an. Bei jeder Spielunterbrechung wanderte sein Blick zum riesigen Komplex des Gaswerks Neukölln, das sich von der Sonnenallee bis zum Neuköllner Schifffahrtskanal zwischen dem Bahndamm und einer Laubenkolonie erstreckte. Gas brauchte man für die Herde und Thermen in den Wohnungen, für die Straßenlaternen, und wer unglücklich war … Doch an diese Einsatzmöglichkeit wollte er lieber nicht denken.
Kriminaloberkommissar Otto Kappe war eigens zum Zeitungskiosk am Kaiserdamm gelaufen, um sich den Telegraf zu kaufen. Denn heute sollte endlich der lange geplante Artikel über ihn und die Berliner Kripo erscheinen. Er konnte es nicht abwarten, bis er wieder zu Hause war, sondern fing schon auf dem Heimweg zu blättern an. Und tatsächlich fand er den Artikel mit dem Foto. Die Überschrift lautete: Die Verbrecherjagd liegt den Kappes im Blut – Wie Hermann Kappe, so der Neffe Otto.
Wir besuchen Kriminaloberkommissar Otto Kappe, 53, in seinem Büro in der Gothaer Straße. Er beugt sich nicht über einen Mann, der gerade erschossen worden ist, sondern über einen dicken Aktenordner. «Ich kümmere mich gerade um einige nasse Fische», erklärt er uns mit dem ihm eigenen Humor. «Das liegt daran, dass ich aus einer Fischerfamilie stamme, Wendisch-Rietz am Scharmützelsee.» Was «nasse Fische» sind, erfahren wir später: ungelöste Fälle. Immer wenn kein aktueller Mordfall anliegt, befassen sich die Beamten der Mordkommission mit ungelösten Fällen – vielleicht ist ja von den Kollegen doch etwas übersehen worden. Otto Kappe ist in Berlin geboren. Wie sein Onkel Hermann, Kriminalober kommissar a. D., ist er zuerst zur Schutzpolizei gegangen und von dort dann zur Kripo gekommen. 1938 hat er den Kommissarslehrgang in Charlottenburg absolviert, ist dann aber ins Abseits geraten, weil er nicht in die NSDAP und die SS eintreten wollte, und hat seinen Dienst in Litzmannstadt, heute Łódź, antreten müssen. Als seine Frau Gertrud dann schwanger wurde, durften sie wieder nach Berlin zurückkehren, wo auch der Sohn Peter zur Welt gekommen ist. Nach dem Krieg hat Otto Kappe zuerst beim englischen Sektorassistenten am Kaiserdamm gearbeitet, 1952 ist er dann zu einer der Mordkommissionen versetzt worden, sozusagen als Belohnung dafür, dass er mit einem Kollegen zusammen einen der Ganoven fassen konnte, der am Raub in der Eisenbahnverkehrskasse Unter den Linden beteiligt gewesen war.
1956 wurde Otto Kappe vom Dienst suspendiert, weil man ihn verdächtigte, bei einer Polizeirazzia aus niederen Beweggründen eine Frau niedergeschossen zu haben. Zusammen mit seinem Onkel Hermann stellte er aber Nachforschungen an und konnte seine Unschuld beweisen.
Hermann Kappe, Jahrgang 1888 und schon lange pensioniert, lobt seinen Neffen in den höchsten Tönen. Er sei intelligent, redegewandt und feinfühlig. Der Meinung sind auch Otto Kappes Kollegen, zum Beispiel sein Kriminalassistent Hans-Gert Galgenberg, dessen Großvater Gustav schon bei der Kripo gewesen ist.
Otto Kappe freute sich über das, was über ihn geschrieben worden war. Und am Kaffeetisch pflichtete ihm seine Frau Gertrud, nachdem sie alles überflogen hatte, bei. Schmunzelnd variierte sie den berühmten Spruch von Descartes: «Ich stehe in der Zeitung, also bin ich.»
«Nun ja …» Otto machte eine etwas hilflose Geste und gebrauchte einen Begriff, den sein Sohn Peter schon öfter verwendet hatte, der an der FU Psychologie studierte. «Das ist nun mal meine narzisstische Bedürftigkeit.»
Gertrud konnte sich ein mildes Lächeln nicht verkneifen. «Dabei magst du doch den SPD-nahen Telegraf eigentlich gar nicht, die Morgenpost ist schließlich dein Leib- und Magenblatt.»
Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Wohnungstür, und Otto brauchte den Dialog, der ihm doch ein wenig peinlich war, nicht fortzusetzen. Es war Peter, der bei einem Freund übernachtet hatte und sie nun zum gemeinsamen Zoobesuch abholen wollte, aber auch noch gern eine Tasse Kaffee mit ihnen trank.
Peter erzählte ihnen, dass er eigentlich gar keine Zeit für einen Ausflug habe, da er an einem Referat über David McClelland sitze.
Sein Vater sah ihn lächelnd an. «Spielt der in London bei Tottenham oder Arsenal?»
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