Название: Bischof Reinhold Stecher
Автор: Martin Kolozs
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783990403563
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Zum anderen war eine Begegnung mit einem jüdischen Häftling maßgeblich für viele Entscheidungen, die Reinhold Stecher in seinem weiteren Leben und vor allem als Bischof von Innsbruck treffen musste, und es lässt sich ebenfalls darin – neben dem gewachsenen Toleranzgedanken, den ihm bereits seine Mutter als Kleinkind eingepflanzt hatte – sein vehementes Eintreten für die brüderliche Aussöhnung des Christentums mit dem Judentum verstehen. „Wenige Tage später streifte ich im Schlafrock des Patienten durch das Haus und gerate ins Souterrain, wo die Versorgungseinrichtungen und Magazine untergebracht sind. Ich wandere durch schlecht beleuchtete Gänge und alle möglichen Gerüche. Und dann komme ich zu einer schweren Schwingtür. Ich reiße sie auf – und vor mir steht ein jüdischer Häftling, im Drillich mit dem Judenstern, abgehärmt, die Arme über der Brust verkrampft … er ist zu Tode erschrocken. Er muss natürlich trotz meines Schlafrocks annehmen, dass ich ein deutscher Soldat bin. So erschrocken er ist, so betroffen bin ich. Wie soll ich ihm sagen, dass er von mir keine Angst zu haben braucht? Und dass ich ein Jahr vorher die gleiche Sträflingskleidung getragen habe und weiß, was es heißt, der SS ausgeliefert zu sein. Wir sind beide stumm. Wahrscheinlich hat er als Angehöriger irgendeines Trupps für Schutzarbeiten etwas Essbares in den Kellern erbeutet und hat nun tödliche Angst, ertappt zu werden. Ich versuche ihm zuzulächeln und halte ihm die schwere Schwingtür auf, damit er seine armselige Beute rasch in Sicherheit bringen kann.“51
Bald nach seiner Genesung kehrte Reinhold Stecher zu seiner Einheit zurück, die sich zu dieser Zeit in der Nähe des Weißen Meeres aufhielt. Von hier aus begann ein 3600 Kilometer langer Marsch über Finnland, Lappland und Norwegen, währenddessen noch diverse Abwehrkämpfe gegen die sowjetische Armee geführt wurden, bevor Deutschland und alle seine Streitmächte am 9. Mai 1945 endgültig kapitulierten: „Pausenlos [marschieren wir] durch die Nächte, von Karelien über Finnland und Lappland bis zur Küste Norwegens, und die Nächte wurden immer länger, wir nur noch durch die Polarnacht zogen, durch Nordlicht und Schneestürme, und nie eine andere Rast als das lausige Zelt ohne Boden, auf dem blanken Schnee, und manchmal bei 40 Grad unter Null. Dazwischen waren Einsätze, und danach waren wir weniger, und die weißen Birkenkreuze blieben zurück. Plötzlich tauchte hinter den höher werdenden Hügeln Lapplands das norwegische Hochgebirge auf. Und wir standen in einer klaren Sternennacht endlich auf dem Pass, von dem aus dann die Straße hinunterführte zum Nordmeer. Da ich das Funkgerät hatte, wusste ich, wie wichtig dieser Pass war. Auf der anderen Seite drohte nicht mehr die russische Gefangenschaft. Wir waren im westlichen Sektor der Alliierten. Am Trondheim-Fjord kommen wir in englische Kriegsgefangenschaft. Die Engländer, die kaum sichtbar sind, behandeln uns mit größter Zuvorkommenheit. Ich bin ein Gefangener und habe mich seit Jahren nicht so frei gefühlt wie jetzt. Mit der Kapitulation Deutschlands hat mein Leben begonnen, und ich lasse mich von diesem Gefühl des Davongekommenseins und des Neuanfangendürfens überwältigen.“52
Dabei fand dieser für Reinhold Stecher unvergessliche Aufbruch in eine neue Welt im an sich bedrückenden Milieu der Nachkriegszeit statt, das gezeichnet war von Bombenschutt und dem gravierenden Mangel an allem Lebensnotwendigen. Seine Heimatstadt Innsbruck, in die er nach der Kriegsgefangenschaft 1945 zurückgekehrt war, hatte eine Welle von Luftangriffen zu verschmerzen gehabt, die über die Hälfte aller Gebäude und nahezu zwei Drittel der Wohnungen in Mitleidenschaft gezogen hatte.53 Dennoch war der Wille zum Neuanfang weitgehend vorhanden und stark genug, dass das Leben letztlich in seine geordneten Bahnen zurückfinden konnte und ein Anknüpfen an Früheres ebenfalls wieder möglich wurde: „Ich hatte meinen Berufswunsch [Priester zu werden] durch die ganze Zeit hindurch getragen – ich weiß nicht, warum das ganze Chaos rundherum diese Absicht nie in Frage stellen konnte. Das entscheidendste Gewicht hatte wohl eine gewisse Ergriffenheit vom Heiligen und das Bedürfnis, dem Menschen zu dienen – und das alles auf dem Hintergrund eines unmenschlichen Staates und der Schrecken des Krieges.“54
KAPITEL 3 ___
„Die Botschaft Jesu Christi ist unüberholbar“ 55 Lernen und lehren – Reinhold Stecher als Seelsorger und Religionspädagoge
Tatsächlich zeigte das Leben seine wunderbaren Erneuerungskräfte, erinnerte sich Bischof Paulus Rusch in seinem Anfang der 1980er-Jahre verfassten Erfahrungsbericht über diese frühe Nachkriegszeit: „Die jungen Männer, in deren Augen sich immer noch der tausendmal gesehene Tod spiegelte, waren ernst, strebsam. Sie verlangten nach echtem Neuanfang. Alle eingerückten Theologen, soweit sie zurückkamen, meldeten sich wieder im Priesterseminar. Ein großer Hunger nach Orientierung zeigte sich. Die große Erfahrung war vielmehr die, dass mitten in der Zerstörung, Dunkelheit und Nacht gesundes Leben geheimnisvoll neu aufbricht. So wie es in der Natur immer wieder Frühling wird, so bricht auch im seelisch-geistigen Leben immer wieder ein Frühling auf.“56
Auch Reinhold Stecher kehrte ans Canisianum in Innsbruck zurück und nahm alsbald sein Studium der Theologie wieder auf: „Hier hatten Theologiestudenten aus aller Herren Länder gehaust und die alte Bude mit mehr oder weniger intensivem Studium und einem dosierten Heiligkeitsstreben erfüllt.“57 Wie viele seiner Kommilitonen spürte er allerdings die durch den Krieg verlorengegangenen sechs Jahre, in denen alles Denken einzig und allein auf das Überleben und Durchkommen ausgerichtet war, und die daraus entstandenen Defizite: „Dennoch wollten wir studieren. Und das größte Geschenk der Vorsehung waren zweifellos unsere Lehrer an der Fakultät. Es gab unter ihnen überzeugende und prägende Persönlichkeiten. Nicht nur das wissenschaftliche Format war so beeindruckend – es war die Übereinstimmung von Leben und Lehre, die sie repräsentierten. Auch Träger weltberühmter Namen führten ein höchst bescheidenes Leben. Man hatte immer das Gefühl, dass Theologie nie auf Kosten der Spiritualität betrieben wurde. So ging uns bei den Gebrüdern Rahner, bei Dander und Mitzka, Lakner und Gaechter die reine Welt auf.“58
Neben dem Jesuiten Andreas Jungmann, den Reinhold Stecher des Öfteren in seinen Büchern erwähnte, war eine dieser „überzeugenden und prägenden Persönlichkeiten“ der Theologischen Fakultät in Innsbruck ganz ohne Zweifel der damals schon sehr bekannte und später noch durch seinen unverzichtbaren Beitrag als Peritus beim Zweiten Vatikanum berühmt gewordene Karl Rahner. „In seinem Ringen um das Wort lag so viel Redlichkeit des Denkens und der Tiefe der Visionen, dass er die Hörer einfach in den Bann schlug. Man spürte, dass da ein lebendiger Geist immer wieder aus den viel befahrenen Bahnen der scholastischen Theologie ausbrach – hinein in das Abenteuer des Hinterfragens und des Aufspürens ungewohnter Zusammenhänge. Bei ihm waren die modernen Wissenschaften eingebaut, er bewegte sich in der Welt der Ökumene, der Gegenwart und der Vergangenheit. Ich will nicht behaupten, dass ich ihn in allem verstanden hätte. Aber er war so etwas wie ein Fluglehrer der Theologie, es ging ihm im letzten immer um die große Zusammenschau des Heils. Das war ja bei ihm so beeindruckend, dass er geistig aus einer so komplizierten, problemüberfrachteten Welt voller Fragen und Auseinandersetzungen kam und doch zu dieser letzten persönlichen Schlichtheit des Glaubens fand. Ihm war zutiefst bewusst, dass heute viele Menschen auf dem Weg sind, manche näher, manche weitab. Aber er war auch zutiefst davon überzeugt: So vielfältig sich heute die Seitenarme des religiösen Tastens und Suchens verzweigen und verwirren mögen, es gibt doch eine geheimnisvolle Strömung in ihnen, die zum ewigen Meer drängt, eine Strömung, die wir Gnade nennen und СКАЧАТЬ