Die Stunde der Kurden. Hans-Joachim Löwer
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Название: Die Stunde der Kurden

Автор: Hans-Joachim Löwer

Издательство: Автор

Жанр: Политика, политология

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isbn: 9783990403549

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СКАЧАТЬ restauriert. Hier treffe ich Scheich Salar, den Vorsteher der Moschee. Er hat dicke Wälzer über die Geschichte der Stadt und der Kurden geschrieben und ist so etwas wie der Hüter der Erbes seiner geistigen und geistlichen Vorfahren. „Es gab einmal einen Scheich Mohammed, der hat demonstrativ eine assyrische Christin geheiratet“, erzählt er. „Er war der Führer der Muslim-Gemeinschaft – und trotzdem wollte er deutlich machen, dass in dieser Stadt auch Christen unter seinem Schutz stehen. Den Sohn, den die Frau ihm gebar, nannte er gar Isa – das ist der arabische Name für Jesus.“

      Man mag es kaum glauben, was dieser Mann da sagt. Nur hundert Kilometer entfernt von hier käme heute kein Muslim auf die Idee, eine Christin zu heiraten, ohne dass sie vorher zum Islam konvertiert. Es würde ihn nämlich ganz schnell den Kopf kosten – im 21., nicht im 19. Jahrhundert!

      Wir gehen zu den Gräbern von Kurden, die Grundsteine für das gelegt haben, was heute in diesem Land heranwächst. Am Rand des großen Gebetssaals liegen elf Mitglieder der Baban-Dynastie begraben. In einem anderen Teil der Moschee steht der Sarkophag von Scheich Mahmud, dem ersten kurdischen Nationalhelden. Hohe, reich verzierte Gitter säumen die Ruhestätte. Besucher strömen in Scharen herein. Männer erheben stehend ihre Hände, Frauen drücken kniend ihre Köpfe gegen die metallenen Stäbe. Feierlich verharren die Menschen vor diesem Grab. Ein Volk, so scheint es, verneigt sich hier vor seinem ersten großen Führer.

      Scheich Mahmud, 1881 geboren, läutete das blutigste Jahrhundert in der Geschichte der Kurden ein. Er entstammte einer Familie, der die geistige Führung der Region oblag. Die Weltmacht Großbritannien, die nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet beherrschte, setzte ihn als Gouverneur ein, um so die Region indirekt regieren zu können. Barsindschi aber weigerte sich, als bloßer Befehlsempfänger zu fungieren. Er ließ Sulaimania von kurdischen Kämpfern besetzen, kurdische Briefmarken drucken und eine kurdische Flagge mit einem Mond auf grünem Untergrund aufziehen. Er wollte auf den Trümmern des untergegangenen Osmanischen Reiches seinen eigenen Staat gründen.

      Barsindschi kämpfte, so war es Tradition, selber mit der Waffe in der Hand an der Front. Die heranrückenden britischen Truppen nahmen ihn, schon schwer verwundet, 1919 am Pass von Basian gefangen. Sie verbannten ihn auf die indischen Andaman-Inseln und nahmen in Kurdistan das Zepter nun direkt in die Hand. Damit hatten sie bald fast alle kurdischen Stämme gegen sich, die noch nie zuvor in der Geschichte eine Zentralgewalt akzeptiert hatten. 62 Würdenträger aus den Gebieten um Mossul, Erbil und Sulaimania forderten in einem Memorandum die Unabhängigkeit, und es hagelte Petitionen, in denen die Rückkehr Barsindschis verlangt wurde.

      Einmal Peschmerga, immer Peschmerga:

      Mohammed Sahid steht mit 85 Jahren noch an der Front.

      Die Engländer gerieten ins Schwanken. 1922 holten sie, um des lieben Friedens willen, den Scheich aus der Verbannung zurück. Kaum zwei Monate später rief Scheich Mahmud sich zum König der Kurden aus. Zwei Jahre lang wehrten sich die mit ihm verbündeten Stämme gegen die Briten. Die setzten wiederum Truppen in Bewegung und auf Sulaimania regneten Brandbomben nieder. 1924 brach der erste große Kurdenaufstand zusammen.

      „Unser Nationalismus war immer defensiv“, sagt Scheich Salar, der mich um das Grab herumführt. „Er war und ist nie gegen andere gerichtet. Wir lassen nur nicht zu, dass man uns das Recht auf Selbstbestimmung nimmt.“

      SULAIMANIA

       „Schlafen verboten“ steht auf den Schildern im Innenhof der Großen Moschee. Was aber tun all die Männer, die sich da auf dem Boden ausgestreckt haben? Sie schlafen, ausnahmslos. Die Mittagssonne brennt, wo sonst gibt es vor ihr einen so guten Schutz? Selbst im Schatten sind es fast 40 Grad.

       Ich schaue Scheich Salar al-Hafis, der mich begleitet, fragend an. Er winkt ab und lächelt milde. Allah ist in Kurdistan eben nicht so streng.

      BARSAN

       „Wir strecken die Hände aus“

      Woher der Geist der Versöhnung weht

      Noch einmal stehe ich vor einem Grab. Es liegt ganz unscheinbar, fast versteckt, an einem Hang des Berges Schirin. Seit gut deißig Jahren ruht hier der größte Sohn des Landes, der Übervater der Kurden. Wäre ein Stück dahinter nicht eine Gedenkstätte gebaut worden, so liefe man Gefahr, ganz achtlos an diesem Grab vorbeizugehen. Keine Tafel mit irgendeiner Inschrift. Keine Kerze, die feierlich flackert. Nur eine kleine, rechteckige Anhäufung von Erde. Nichts, absolut nichts verrät dem Besucher, wer dieser Tote ist. So wollte es Mustafa Barsani. Schlicht, wie er sein Leben führte, wollte er auch bestattet sein.

      Zwei hochkant aufgestellte Steinplatten markieren die Lage des Toten, das ist islamischer Brauch. Sohn Idris, der nur acht Jahre später starb, wurde neben seinen Vater gebettet. Eine hüfthohe Steinmauer grenzt das sechs mal sechs Meter große Geviert ein, man kann sich mit den Händen auf sie stützen. Besucher stehen stumm und andächtig an diesem historischen Platz.

      Ein Stück weiter unten liegen fast hundert Männer begraben, die an Barsanis Seite gekämpft haben. „Peschmerga“ nennen die Kurden bis heute all jene, die für die Freiheit ihres Volkes zu den Waffen greifen. Die Bezeichnung bedeutet auf Deutsch: „Die dem Tod ins Auge Sehenden.“ Wer seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt, der gilt als „Märtyrer“. Das, aber wirklich nur das, haben sie mit den Islamisten gemein, die heute das Land der Kurden bedrohen.

      Der Wind säuselt durch die Blätter der Bäume, die ein wenig Schutz vor der stechenden Sonne bieten. Sanft weht die Brise über die herrliche Landschaft, so als wolle sie alle Wunden streicheln, die sie in den vergangenen hundert Jahren erlitten hat.

      Barsanis Erben kamen vor ein paar Jahren zu dem Entschluss, dass sie sich in einem einzigen Punkt über den letzten Willen ihres toten Helden hinwegsetzen müssten. Sein Grab durfte einfach nicht länger einfach so vor sich hin dümpeln. Sie ließen auf einer terrassierten Fläche ein mächtiges Halbrund aus Beton errichten – eine Art Kulturzentrum mit Museum und Veranstaltungsräumen.

      Wieder suche ich, diesmal tief in den Bergen, nach den geistigen Wurzeln dieses Volkes. Woher kommt es, dass die irakischen Kurden so ganz anders „ticken“ als ihre Nachbarn? Warum glaubt heute jeder, der in ihr Land kommt, plötzlich in einer anderen Welt zu sein, obwohl sie auf der Landkarte schier eisern umschlossen scheint von Arabern, Türken und Persern?

      „Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen“, sagt Mebaschar Hado. Kurden lieben Geschichten, das haben sie aus den Zeiten mitgenommen, in denen es noch kein Fernsehen gab. Da saßen sie in ihren einsamen Dörfern tagsüber vor dem Haus beim Tee, abends drinnen auf dem Teppich bei Huhn und Reis und tauschten die neuesten Nachrichten aus. Mebaschar gehört zum „Gastfreundschaftskomitee“ dieser Gedenkstätte und hat sich für mich ein paar Stunden freigenommen. Denn er will mir erklären, welcher Geist vom Grab des Mustafa Barsani ausgeht.

      Er berichtet von einer der vielen Schlachten, die zu Marksteinen in der Geschichte der Kurden wurden. 1932 war es, bei Dola Waje, gar nicht weit entfernt von hier. Die Kurden hatten sich wieder einmal gegen die Zentralregierung in Bagdad erhoben. Eine irakische Spezialeinheit, aus der Luft unterstützt von britischen Flugzeugen, rückte gegen sie vor. Die Peschmerga leisteten zunächst keinen Widerstand, lockten die Soldaten immer tiefer ins Tal von Barsan hinein. Sie hatten beiderseits die Höhen besetzt, von dort nahmen sie dann den Feind unter Feuer. Am Ende war es ein Kampf Mann gegen Mann und ein irakischer Soldat schoss dem jungen Barsani, der einen Rebellentrupp kommandierte, СКАЧАТЬ