Название: Am Abgrund
Автор: Klaus Vater
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520120
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«Mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit. Jenische sind tüchtig. Die stecken unendlich viel Sorgfalt in die Erziehung ihrer Kinder. Ich fürchte aber, dass es den Jenischen unter der neuen Regierung nicht gutgehen wird. Auf Wiederhören!» Damit legte Bresser auf.
«Was hältst du von dem Leiblein?», fragte Kappe den Kollegen Galgenberg.
Der hatte sich inzwischen die Photos angeguckt, den Militärpass, den Mitgliedsausweis des Zimmererverbands und die anderen Papiere. «Tja, da hast du die freie Auswahl, Hermann. Das ist entweder ein perfider Mörder oder ein anständiger Kerl, dem man etwas anhängen will. Wie siehst du die Sache?»
Kappe überlegte eine Weile. «Leiblein kommt aus einem Kaff, wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, denn reiche Leute schicken ihre Söhne nicht auf die Walz. Er arbeitet offenbar nicht mehr daheim, weil er hier in Berlin besser verdienen kann. 55 Pfennige die Stunde sind nicht berauschend, aber immerhin mehr als in der Eifel. Außerdem hat er sich hochgearbeitet. Ist Zimmermann, Spezialist für Bauen im Sand. Meister. Er hat sehr sorgfältig im Mitgliedsbuch eintragen lassen, wann er die Versammlungen seiner Gewerkschaft besucht hat. Einträge über Arbeitslosenunterstützung gibt es nicht. Es scheint Ordnung in seinem Leben zu herrschen. Im Krieg war er Feldwebel. Das ist einer, der weiter nach oben will …»
«Aber vielleicht bald mit Madame Guillotine Bekanntschaft macht», fügte Galgenberg hinzu. «Er lag fast ein Jahr vor Verdun. Ein Jahr Fleischwolf. Als Festungspionier. Das sind Leute mit Nerven wie Drahtseile, sag ich dir. Die wurden nach vorne beordert, wenn nix mehr ging. Der Krieg hat die merkwürdigsten Typen hervorgebracht. Er ist katholisch, gläubig. Er wohnt nicht feudal im Adlon, sondern zur Untermiete in der Nähe der Köpenicker Straße. Keine schlechte Gegend, aber auch nichts zum Prahlen. Schau dir mal die beiden Männer auf der Photographie an, wie ähnlich die sich sehen. Der links ist Feldwebel mit dem EK I, der andere ist Obergefreiter. Das sind Brüder, und der Linke ist dein Mann, wetten?» Er zeigte auf einen länglichen Kopf mit Schirmmütze. Das Gesicht war eingerahmt von einem Bart mit sich teilenden Enden.
«Wenn Brettschieß oder ein anderer Brauner spitzkriegt, dass der Leiblein ein Jenisch ist, hat der nichts mehr zu lachen. Für die ist der Mann dann von vornherein Abschaum. Für die ist nur noch ein richtiger Mensch, wer eine nationalsozialistische Gesinnung hat. Die würden am liebsten braune Geranien züchten, sag ich dir.»
«Was hat das denn mit der S-Bahn zu tun? Das ist sehr weit hergeholt.»
«Vergiss nicht», erwiderte Galgenberg, «dass die Braunen jetzt auf Teufel komm raus die Arbeitslosenzahl senken wollen. Die drängen die Arbeitslosen aufs Land, auf die Bauernhöfe, damit die nicht mehr das Stadtbild versauen. Es heißt ja auch immer öfter ‹arbeitsscheu› statt ‹arbeitslos›. Und sie wollen ihre Arbeitsschlacht gewinnen. Für die Berliner Arbeitsschlacht brauchen sie Fachleute wie deinen Eifeler. In der Morgenpost stand neulich: Das Wunderwerk der Nord-Süd-Bahn. Das nationalsozialistische Wunderwerk soll fertig sein, wenn die Jugend der Welt in zwei Jahren in Berlin vorturnt.» Kappes Telefon rasselte. Es war der Kriminalassistent, den er beauftragt hatte, sich um Leiblein zu kümmern. Aus der Vernehmung werde heute nichts mehr, erklärte er, weil der Zimmerer auf der Krankenstation sei. Er habe Blessuren im Gesicht und könne erst am nächsten Tag vernommen werden.
Seit Anfang 1933 ärgerte sich Kappe schwarz und wünschte einigen im Präsidium die Krätze an den Hals, wenn er einen Fall zu bearbeiten hatte, in dem die SA eine Rolle spielte. Er hatte sich sein Bild von den Mitgliedern dieser NS-Organisation gemacht. Man kam daran einfach nicht vorbei. Wie viele seiner Kollegen schaute auch Kappe nur noch verlegen zur Seite, wenn es um die SA ging. Hunderte von denen waren nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und nach dem Putsch der Reichsregierung gegen die preußische Landesregierung zu sogenannten Hilfspolizisten ernannt worden. Die Männer blieben SA-Mitglieder, wurden aber notdürftig als Polizisten verkleidet. Die SA-Feldpolizei war eine Sondereinheit, die die reguläre Polizei bei ihrem Kampf gegen die «staatsfeindlichen Kräfte» verstärken und unterstützen sollte.
Tatsächlich machte die SA, was sie wollte. Sie richtete Gefängnisse und Folterlager ein. Zum Beispiel in der General-Pape-Straße. Das Pankower Gefängnis war von der SA kurzerhand umfunktioniert worden. Seitdem hieß es Karl-Ernst-Haus, nach dem sadistischen Berliner SA-Chef benannt. Das Columbiahaus in Kreuzberg wurde die schlimmste SA-Folterstätte. Später übernahm die SS das Haus und setzte fort, was die SA begonnen hatte. Daneben existierten in Kneipen und anderen SA-Treffpunkten viele kleinere Folterstätten. Die SA verhaftete zeitweise, wen sie wollte, quälte ihre Opfer, wo und wann sie wollte, ermordete sie schließlich und verscharrte sie irgendwo. Die Schutzpolizei konnte nichts tun. Die Mordkommission der Berliner Polizei stand am Ende oft vor dem, was äußerlich kaum noch einem Menschen glich.
Offiziell durfte die SA das alles natürlich nicht. Nicht einmal mehr verhaften durfte sie. Reichsinnenminister Frick hatte am 12. April 1934 angeordnet, dass die SA selbst keine Verhaftungen mehr vornehmen, sondern nur noch Schutzhaft anregen dürfe. Vor allem dann, wenn ein Verdächtiger durch staatsfeindliche Äußerungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. Kappe grunzte. So ein Quatsch! Und was war mit der SS? Nur Dumme ließen sich durch einen Frick-Erlass täuschen.
Anfangs war Kappe nur neugierig stehengeblieben, wenn SA-Mitglieder, ihre Lieder grölend, auf Lastwagen durch die Stadt fuhren. Er konnte vom Rand der Straße her riechen, dass viele besoffen waren – so besoffen, dass sie Vater und Mutter nicht mehr erkannt hätten. Grinsend saßen sie auf den schaukelnden Ladeflächen, ihre Gewehre zwischen den Schenkeln, die Sturmriemen festgezogen. Wenn der Wagen hielt und die Männer heruntersprangen, wichen die Menschen unwillkürlich zurück. Kinder wurden von der Straße geholt, Rollläden runtergelassen. Das Straßenleben erstarb. Später bog Kappe sofort ab, wenn er solche Wagen kommen hörte.
Manchmal hatte er den unbestimmten Eindruck, dass neben den aufmarschierenden Scharen der SA, neben denen der Jungen und Mädchen, der Lehrer mit dem Parteiabzeichen, der braunen Beamten, der Landwirte und Krämer noch eine andere Armee marschierte. Wenn der offizielle NS-Staat die Berliner Wilhelmstraße hinauf- oder hinuntergezogen war, über den Horst-Wessel-Platz zum Fehrbelliner Platz, glaubte Kappe ein leises Echo auf deren Tschingderassabum zu hören. Das drang aus irgendeiner Parallelstraße, auf der schweigend, grau und lautlos eine andere Schar zog: die SS und der Sicherheitsdienst, auch SD genannt.
Es schüttelte Kappe, wenn er denen begegnete. Die Mitarbeiter des SD waren meist arbeitslose NSDAP-Mitglieder, die der SS beigetreten waren. Judenhasser aus dem Staatsdienst, auch aus dem Polizeikorps, die sich das Parteiabzeichen der Braunen hatten anstecken lassen. «Arische» Jünglinge. Sadisten. Hasser der Republik. Gegner jeglicher Verständigung mit anderen Völkern. Bedenkenlose Aufsteiger. Viele gingen keinem Dreck aus dem Weg, weil sie mit den Nationalsozialisten aufsteigen wollten. Manche von denen waren ebenso intelligent wie gewissenlos und besaßen geschliffene Umgangsformen. Und allmählich wuchs dieses Volk in die reguläre Polizei hinein.
Die Beamten der Mordinspektion waren Fußsoldaten. Sie kamen aus allen Schichten des Volkes – mit und ohne Latinum. Es kam in den Mordkommissionen auf Ausdauer, auf Intelligenz, auf Menschenkenntnis an. Wer seinen Kopf wie ein Lexikon der menschlichen Natur zu gebrauchen wusste, der war hier richtig. Das war keine Arbeit für Menschen, die ihre Füße lieber in Schühchen für den Sonntagnachmittag-Ausflug steckten statt in Stiefel mit dicken Sohlen.
Der SD, das war Angst und Schrecken, Schweiß und Erbrochenes, Blut und lädierte Knochen. Alles versteckt hinter dicken Mauern. Der Satz «Kommen Sie mit!» wirkte am besten nachts, wenn man jemanden aus dem Schlaf gerissen hatte. Wer solch einem Befehl nicht freiwillig folgte, den erwartete die Hölle.
Auf diesem Terrain musste sich Kappe nun bewegen. Er tat das, was ein guter Kriminalist tat, wenn er in unklare Situationen Klarheit bringen wollte: nachschauen, was die Akten hergeben. Also СКАЧАТЬ