Название: Unschuldsengel
Автор: Petra A. Bauer
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955520083
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Kappe blickte an sich herunter und musste zugeben, dass sein Kollege recht hatte. Das Hemd spannte ein wenig, und über den Hosenbund hatte sich ein kleines Speckröllchen gewölbt. Das muss der Zufriedenheitsspeck sein, dachte er. Während der Zeit seiner außerehelichen Liebesabenteuer hatte er oftmals keinen Bissen herunterbringen können. Aber nachdem Klara und er sich versöhnt hatten, schmeckte ihm die Blutwurst wieder. «Nun ja, die schlechten Zeiten sind vorbei», sagte Kappe und ließ offen, was er damit gemeint hatte.
Mai 1909
Unter der Küchenbank ist er unsichtbar. Wenn Vater in dieser Stimmung war, begegnete er ihm besser nicht. Mutter schlug auch zu, wenn er sich einen Fleck auf das Hemd gemacht oder nicht aufgegessen hatte. Dann flog er einmal durch den Raum, aber das war es dann auch schon. Vater aber steigerte sich stets in blinde Wut hinein, schlug und schlug und schlug, egal, wo er traf, egal, mit was. Oft konnte er dann tagelang nicht in die Schule gehen wegen der vielen blauen Flecke. Mal war auch die Lippe aufgeplatzt, und einmal hatte er tagelang Kopfschmerzen, nachdem der Vater ihn mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert hatte. Manchmal wunderte er sich, dass noch keiner der Nachbarn die Polizei verständigt hatte. Die Leute im Haus wussten, was bei ihnen passierte. Er hatte sie darüber reden hören, und sie sahen ihn immer so mitleidig an. Mutter musste heute das falsche Essen gekocht haben, denn Vater ging sofort auf sie los, kaum dass er hungrig aus der Kneipe gekommen war. Jetzt liegt sie am Boden. Vater schlägt und tritt sie. Er würgt sie mit ihrem rosafarbenen Schal, den sie immer trägt, weil ihr so leicht kalt am Hals wird, und der zu ihr gehört wie ihre blauen Augen. Der Blick, den sie ihm stumm unter die Küchenbank schickt, fleht, dass er Hilfe holen möge. Doch er rührt sich nicht. Die Mutter schreit nun. Er kann nicht sehen, was der Vater oben tut, doch dann saust ein Stuhl auf ihren Schädel hinunter. Wieder und wieder. Als sie sich nicht mehr rührt, holt sich der Vater ein Bier und setzt sich auf die Küchenbank. Er wagt kaum zu atmen, bis Vater Stunden später zu Bett geht.
VIER
DER JUNGE MANN stellte den Koffer ab und sah auf den Zettel, ob er sich auch nicht verlaufen hatte, aber die Anschrift stimmte: Soldiner Straße 89, zweiter Hinterhof. Sein möbliertes Zimmer lag also in einer Gegend, die er früher unter allen Umständen gemieden hätte. Doch er war gezwungen, sein Geld zusammenzuhalten. Und wenn das bedeutete, dass er ab sofort bei den Ratten wohnen musste, dann war das eben so. Er konnte es nicht ändern. Noch nicht.
«Du liebe Zeit, wie riesig der ist!» Charlotte legte den Kopf, so weit es ging, in den Nacken und hielt die Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
«Deshalb ham se den wohl ooch ‹Langer Lulatsch› jenannt», mutmaßte Mina beim Blick auf den wahrhaft imposanten Berliner Funkturm.
Dieser war am 3. September bei sommerlichen Temperaturen um 25 Grad nach zweijähriger Bauzeit endlich eingeweiht worden.
Charlotte hatte Mina gefragt, ob sie mit ihr und Konrad, der inzwischen wieder aufgetaucht war, über die Funkausstellung schlendern und sich bei dieser Gelegenheit auch den Turm anschauen wollte.
Mina sagte gerne zu, hatte aber die Funkausstellung ziemlich langweilig gefunden. Die Messe fand zum dritten Mal statt, und es wurde auch in der Presse ein ziemlicher Wirbel darum veranstaltet, den sie überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Es waren vornehmlich Röhrenempfänger zu sehen sowie Kopfhörer von vielen verschiedenen Herstellern, für die Konrad Brause ein ausgeprägtes Interesse zeigte. Was sollte nur so gut daran sein, die Musik direkt in die Ohren zu bekommen? Mina hörte gerne hin und wieder Radio zur Unterhaltung während der Hausarbeit, bei der sie Charlotte zur Hand ging. Das war das mindeste, was sie für die Freundin tun konnte als Dank dafür, dass diese sie kostenlos bei sich wohnen ließ. Doch mit einem Kabel wäre sie dabei nicht einmal vom Radioapparat bis zum Küchentisch gekommen. Außerdem hätten sie sich dann auch nicht mehr unterhalten können.
Ob es nun die Kopfhörer waren oder die schlechte Luft in den Messehallen, Mina war es immer schwerer gefallen, ihr Gähnen dezent hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, und Charlotte ging es ganz offensichtlich genauso. Sie war heilfroh, als sie die schmucklosen Räumlichkeiten verließen und wieder an die frische Luft kamen.
Der imposante Funkturm thronte mitten auf dem Messegelände und war weithin zu sehen. Sechshundert Tonnen Stahl waren dafür verarbeitet worden, hatte Mina in der Zeitung gelesen. Das Gebilde sollte fortan als Mittelwellensender für Radioprogramme dienen. Unterhalb des Sendemastes war eine verglaste Aussichtsplattform angebracht, und auf halber Höhe befand sich ein Restaurant. In dieses Restaurant wollte Konrad Brause Lotte und Mina einladen.
Doch je länger Mina nach oben sah, umso mulmiger wurde ihr bei dem Gedanken, in einen engen, wackeligen Fahrstuhl zu steigen und keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben.
«So, dann lasst uns mal hochfahren!», sagte Charlotte schließlich energisch und schob Mina und Konrad in Richtung Funkturm.
Mina ließ sich jedoch nicht schieben. «Lotte, bitte sei mir nich böse, aber ick kann da nich ruff. Ick hab jedacht, et wär nich mehr so schlümm, aber ick bin sicher, ick halte den Weech nach oben nich aus, wenn ick det hier sehe.» Bei dem Gedanken daran, wie hoch alles erst von oben aussehen würde, wenn sie sich doch hier unten schon gruselte, wurde ihr beinahe schwindelig.
«Mina, du siehst ja käseweiß um die Nase aus. Hast du Höhenangst?»
«Ick gloob schon. Uff so wat Hohem war ick ja bisher noch nie. Bitte, lasst mich hier unten! Wir machen een andermal wat Schönet zusamm. Aba bitte nich da hoch!» Mina machte kugelrunde Augen, zog die Stirn in Falten und gab insgesamt ein ziemlich jämmerliches Bild ab.
«Beruhige dich doch! Wir müssen da nicht hoch. Wir bleiben unten und gehen woandershin. Nicht wahr, Konrad? Das macht dir doch auch nichts aus, oder?»
Aber Mina wehrte ab. «Ick weeß doch, wie ihr euch druff jefreut habt. Jeht ohne mir hoch! Mir macht det nüscht. Ick hab det Ding jetz von Nahem jesehn, und det reicht. Ick koof ’ne Ansichtskarte für meene Familje, und denn fahr ick nach Hause und machet mir ’n bissken jemütlich.»
Charlotte wollte protestieren, aber Mina versicherte ihr, dass es ihr wirklich nichts ausmachen würde.
Konrads Protest war ohnehin verhaltener ausgefallen. Er war vermutlich froh, seine Lotte wieder für sich zu haben, so selten, wie sie Zeit füreinander hatten.
«Gut, aber pass auf dich auf!», sagte Lotte.
«Ja, Mutti!» Mina lachte. «Hör ma, ick bin ja nich zum ersten Mal alleene in Berlin untawegs.» Sie winkte den beiden zu, als sie in den Fahrstuhl einstiegen, und winkte noch, als sich die kleine Kabine schon nach oben in Bewegung gesetzt hatte. Doch beim Hochschauen ergriff das Schwindelgefühl erneut von ihr Besitz, und sie schwankte ein wenig. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
«Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein? Sie sind ja vollkommen bleich.»
Mina ließ es geschehen, dass der Mann sie zu einer Parkbank führte, die am Fuße des Funkturms stand, und sie mit Nachdruck darauf platzierte.
Der Unbekannte öffnete seine Aktentasche und holte eine Thermoskanne heraus. In den Deckel, der gleichzeitig als Becher diente, goss er etwas ein und reichte es Mina. «Kräutertee», sagte er. «Der wird Ihnen auf die Beine helfen.»
Der Tee war nur lauwarm, aber er tat gut. Auch dass sie sitzen konnte und sich jemand um sie kümmerte, half viel.
«Danke. СКАЧАТЬ