Название: Kempinski erobert Berlin
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783955522483
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Witold Klodzinski hatte sich vor sechs Jahren schon auf dem Weg in ein sibirisches Arbeitslager befunden, als es Kraschnitz mit seinen Verbindungen zu deutschen Diplomaten in St. Petersburg gelungen war, ihn den Russen doch noch zu entreißen. Voller Dankbarkeit für seine Rettung hatte er sich dann widerstandslos in sein Schicksal ergeben, mit den Ostrower Ulanen in den Krieg zu ziehen. Natürlich war ihm das contrecoeur gegangen, denn das Herz der Polen hatte immer schon für Frankreich geschlagen, und der Sieg über die Franzosen stärkte nur die Deutschen und ließ ein freies und großes Polen in eine noch fernere Zukunft rücken, aber zuerst kam das Menschliche, und er wollte Kraschnitz nicht enttäuschen.
Berthold Kempinski freute sich über das Glück seiner beiden besten Freunde, haderte aber doch ein wenig mit dem eigenen Schicksal. Er hatte kein Studium beendet, konnte sich weder Professor nennen und seiner Gelehrsamkeit rühmen, wie der eine, noch hatte er etwas Abenteuerliches erlebt und galt als Held, wie der andere, er verschleuderte weiterhin all seine Gaben und war im Grunde nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Ladenschwengel. »Da darf ich Ihnen zuerst die alles entscheidende Frage stellen, mein Herr: Rot oder weiß?« Er sah sich als armseliges Zirkuspferd Abend für Abend, Jahr für Jahr durch die Arena laufen, immer im Kreis herum, obwohl er doch die Anlage zu einem Rennpferd hatte, das immerzu siegen und wertvolle Preise einheimsen konnte. Im neuen Jahr musste alles anders werden, musste er endlich raus aus seinem Trott. Breslau war eine Sackgasse, in Berlin spielte die Musik.
Sie mussten langsam zusehen, dass sie in einer der vielen Kneipen und Gaststätten einen Platz ergatterten, wollten sie auf das neue Jahr mit Sekt anstoßen, doch das Gedränge vor den Eingängen war so groß geworden, dass sie kaum noch hoffen konnten.
»Witold, geh du mal voran!«, rief Berthold Kempinski. »Du hast Kampferfahrung und kannst den Durchbruch schaffen.«
Witold Klodzinski sagte nicht nein und spielte den Rammbock, die beiden anderen folgten ihm.
Anfangs ging es ganz gut, dann aber verlor Berthold Kempinski ein wenig den Anschluss, und der Druck der Menge trieb eine junge Frau wie einen Keil zwischen ihn und Klodzinski. Es ließ sich nicht vermeiden, dass er ihr kräftig auf den Fuß trat. Sie schrie auf.
»Pardon!« rief er. »Aber das ist mein erster Auftritt heute.«
»Sie haben mir den Fuß gebrochen, Sie Gawwalier! Ich werd gleich ohnmächchdch.«
»Kommen Sie, ich stütze Sie.« Dessen bedurfte es eigentlich keiner besonderen Aufforderung, denn sie wurde von den Nachdrängenden ohnehin gegen seinen Körper gepresst. »Witold, andere Richtung, wir müssen raus hier!«
Das gelang dann auch mit einiger Mühe, und als sie schließlich am Rande des Menschenstromes eine halbwegs ruhige Insel gefunden hatten, stellte sich heraus, dass das Fräulein nur noch humpeln konnte.
»Wie soll ich denn so nach Hause kommen?«, fragte sie.
»Wir tragen Sie hin«, versprach ihr Berthold Kempinski, den die Kleine, sechzehn mochte sie sein, gehörig dauerte. »Wo kommen Sie denn her?«
»Aus Leibzsch.«
»Das dürfte ein bisschen weit sein. Aber dass Sie aus Leipzig stammen, hätte ich nie vermutet.«
»Nu, door säggs’sche Dialeggd iß iwwerall ä bisschen andorsch. Mier mergn glei, wenn eener aus Drehsden oder aus Leibzsch gommd. Wie in Leibzsch so schbrichd morr ooch inn Worrzn, Grimme unn ooch in Borrne. Schon in Eilnborch unn ooch in Dorche gamorr gee G schbrechn. Doord gibbds dorrfohr ä J.«
Alles lachte schallend, und sie erklärte, dass in Leipzig zwar ihr Elternhaus stünde, sie aber durch mehrere Zufälle bei einem Arzt in der Berliner Straße gelandet sei. »Hier in Breslau. Als Dienstmädchen.«
»Dann ist das mit dem Tragen ja wirklich kein Problem«, sagte Leopold Leichholz. »Wenn wir die Neue Oderstraße Richtung Bahnhof hochgehen, sind wir gleich an der Berliner Straße. Passen Sie mal auf, Fräulein …«
»Hess, Helene Hess.«
»Wieso Hässlich?«, fragte Berthold Kempinski, sie bewusst miss verstehend. »Sie müssten doch eigentlich Schön heißen, Helene Schön, die schöne Helene.«
»Sie können aber Gommblemännde machen.«
»Nicht nur das…«
Schon war er dabei, seine Hände mit denen von Witold Klodzinski zu verschränken, so dass sich für das Fräulein ein schöner Sitz ergab. So zogen sie denn los. Leichholz, der für solche Transporte zu schwächlich war, wies ihnen den Weg.
Die Familie des Arztes war schon tüchtig am Feiern, der Doktor fand aber noch Zeit, den schon dick angeschwollenen rechten Fuß des Mädchens zu versorgen. Anschließend lud er die drei jungen Männer ein, mit ihm und seinen Gästen zu feiern. Sie sagten nicht nein, zumal es hieß, der Champagner sei schon kalt gestellt.
Caspar Sprotte war 1840 in Berlin als Sohn eines Schauspielers zur Welt gekommen und hatte mit heißem Bemühen Malerei und Baukunst studiert, ohne aber von den anderen als das Genie wahrgenommen zu werden, als das er sich selber sah. Auch seine Romane und Gedichte hatten nie einen Verleger gefunden. Schließlich war er in die Fußstapfen seines Erzeugers getreten und versuchte sich nun nach zwei Jahren an einer mittelmäßigen Schauspielschule als gehobener Statist an den Bühnen der preußischen Provinz. So hatten all die Großen einmal angefangen, und es gab schlechtere Plätze als Breslau und geringere Rollen als den Pförtner in Shakespeares Macbeth. Elend war das Leben eines Bohemiens in den Zeiten kaiserlichen Glanzes, aber Sprotte genoss es dennoch.
Vor der nächsten Probe saß er in der Kantine des Breslauer Stadttheaters am Exerzierplatz und memorierte seinen Text. »Das ist ein Klopfen! Wahrhaftig, wenn einer Höllenpförtner wäre, da hätte er was zu schließen. Poch, poch, poch: Wer da! In Beelzebubs Namen? Ein Pächter, der sich in Erwartung einer reichen Ernte aufhing…«
Das ging. Wenn er nur etwas zu trinken gehabt hätte! Bei seiner geringen Entlohnung war er gezwungen, sich zwei Stunden an einem Schoppen Wein festzuhalten.
Als er sein Glas bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, lechzte er geradezu nach einem frischen Trunk, und just in diesem Augenblick kam ein Mann mit einem großen Korb voller Weinflaschen vorüber.
»Wein her!«, rief Sprotte. »Wein her, Burschen!/Stoßt an mit dem Gläselein, klingt! klingt!«
»Bravo«, rief der Mann mit den Weinflaschen. »Shakespeare, Othello, II. Akt, 3. Szene.«
»Ihr Bravo retour!« Da Sprotte im Gegensatz zu dem anderen seine Hände frei hatte, konnte er anhaltend klatschen. »Welche Bildung bei einem Boten!«
»Das hing bei meinem Vater im Bureau. Wir sind eine alte Weinhändlerfamilie.«
»Wir haben auch mit Weinen zu tun, mit Lachen und Weinen.«
»Sie sind hier im Engagement?«
»Erraten.« Sprotte rückte einen zweiten Stuhl zurecht. »Setzen Sie sich doch.«
Man stellte sich vor, und Caspar Sprotte erfuhr, dass der andere Berthold Kempinski hieß und kein simpler Bote war, sondern Kompagnon des Weinhauses M. Kempinski & Co., das auch Lieferant der Theaterkantine war, und außerdem Absolvent des bekannten Gymnasiums in Ostrowo. Sie kamen schnell ins Gespräch.
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