Still und starr ruht die Spree. Nora Lachmann
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Название: Still und starr ruht die Spree

Автор: Nora Lachmann

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежные детективы

Серия:

isbn: 9783937881911

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СКАЧАТЬ ja nicht auszuhalten!« Als sie wiederkam, war schon bei ihren langsamen, schlurfenden Schritten klar, dass sie sich einen Schuss gesetzt hatte.

      Nach diesem Heiligen Abend erklärte mein Vater, er würde nächstes Jahr auf den fremden Weihnachtsgast verzichten und lieber die monatlichen Überweisungen an Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und die Berliner Kältehilfe für Obdachlose erhöhen. Meine Mutter noch zermürbt vom Vorabend und von Falks anschließenden hirnrissigen Rechtfertigungen stimmte sofort zu. Doch trotz erhöhter Spendenzahlungen wurde sie am 23. Dezember wieder schwach und wählte ritualhaft die Vorweihnachtstags-Nummer der Organisation der Tochter ihrer Bekannten, der Kunstsammlerin. Und so kam es, dass auch dieses Jahr wieder ein unbekannter Gast mit bei uns am Tisch sitzt.

      »Franz mein Name«, murmelt der Landstreicher jetzt, und reicht erst Falk, dann mir die Hand.

      »Karl-Heinz«, sagt Falk verblüffte Gesichter meiner Eltern. Meine Mutter schüttelt missbilligend den Kopf und tut sich etwas Salat auf. Sie ist Falks ewige Clownerie ziemlich leid.

      »Jana«, sage ich wahrheitsgetreu.

      »Ist ja ’ne Riesenhütte hier!«, unser Gast hat sich trotz diverser Gesten meiner Eltern in diese Richtung noch nicht auf seinen Stuhl gesetzt, sondern blickt sich immer wieder erstaunt in dem riesigen Parkett-Zimmer mit hohen Wänden und stuckverzierter Decke ganz zu schweigen von den vielen Kunstwerken und Trödelobjekten um. Meinen Eltern ist diese Art von Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm.

      »Das Essen ist wirklich nichts Besonderes, aber ich hoffe, es schmeckt Ihnen«, fällt meiner Mutter ein, um die sichtliche Bewunderung des Gastes für ihr Domizil zu übergehen. Falk und ich werfen uns wieder einen amüsierten, aber im Grunde sehr wohlmeinenden Blick zu. Sie sind eben so, wie sie sind: Unsere Eltern haben es bis heute nicht verwunden, dass sie mittlerweile zu den Gutverdienern gehören. Das passt nicht in ihr Lebensbild, der Erfolg ihres Architekturbüros und obendrein der Galerien hat sie überrumpelt, sie haben von früh bis spät ein schlechtes Gewissen deshalb, obwohl sie noch nicht einmal auf die Idee kämen, die Steuer zu hinterziehen oder ihrer Putzfrau kein dickes Weihnachtsgeschenk zu geben. Mit unserem prolligen Hauswart berlinert mein Vater sogar immer, um nicht abgehoben zu wirken.

      »Nichts Besonderes? Was ist das denn?«, fragt der Mann und deutet auf das große Fleischstück in der Jugendstilterrine, daneben die Soße in einem wunderbaren Art-déco-Kännchen. Verschiedene Vorspeisen und Salate sowie Teller mit Lübecker Marzipan, Domino-Steinen und Zimtsternen zierten den Tisch.

      »Ach …«, meine Mutter windet sich, streicht sich die Ärmel ihrer bunten, unlängst in Madrid erstandenen Seidenbluse glatt.

      »Aldi-Fleisch, ewig alt, Aldi-Salat von gestern, Penny-Stollen und Kekse von vor der Wende«, kichert Falk in sich hinein. Nichts davon stimmt. Ich weiß, er will nur wieder einmal testen, wie viel Understatement unsere Eltern wirklich tolerieren.

      »Falk! Das ist Hirsch aus dem KaDeWe, selbst gebackener Stollen von Großmutter, und die Kekse hat Frau Larsen du weißt schon, die uns den Sprechenden Waschlappen abgekauft hat uns gestern gebracht.«

      Damit hat mein Vater sich natürlich verraten.

      »Hirsch aus’m Kaufhaus des Westens … Nichts Besonderes?«, murmelt unser Gast verwirrt und lässt sich nun doch endlich auf seinem Stuhl nieder. Seine Bewegungen sind sehr langsam, als würde er unter Beruhigungsmitteln stehen.

      Meine Mutter tut Franz nun zu essen auf, der sich manierlich bedankt, gießt ihm Wein ein, und fragt ihn, woher er denn komme. Und Franz antwortet recht kohärent, dass seine Eltern in Lüneburg leben, seine ältere Schwester jedoch in Kiel, mit Mann und zwei Kindern. Letztes Jahr war er sogar einmal da gewesen.

      Mein Vater steht zwischendurch auf, bläst ein paar heruntergebrannte Weihnachtskerzen aus und ersetzt sie durch neue. Meine Eltern sind stolz darauf, ihren Baum nicht mit elektrischen Kerzen zu schmücken.

      Franz scheint der Wein gut zu schmecken, auch die Nudeln hat er verdrückt, nur sein Fleischstück schiebt er, wie mir jetzt auffällt, ständig auf seinem Teller hin und her. Als ich mich einmal weit über den Tisch beuge, um mir eine Schüssel mit eingelegten Artischockenherzen zu nehmen, höre ich, wie er, während er mit der Gabel auf dem Teller herumfuhrwerkt, murmelt: »Hab ich dich endlich, du Sprechender Waschlappen! Mach mal ‚Piep‘! Sag mal ‚Ah‘!«

      Mein Vater, der das nicht gehört hat, fragt Franz nun, wo er denn das letzte Jahr Weihnachten gefeiert hätte. Und Franz erzählt, dass er bei »so ’ner janz normalen Familie« in Neukölln in einem Partykeller gesessen hat. Um gleich ihre Solidarität mit den Proleten aus Neukölln unter Beweis zu stellen, ruft meine Mutter übertrieben euphorisch: »Ach, Neukölln! Da geh ich so gern auf den Markt!« Falk und ich werfen uns wieder einen langen Blick zu: Auf den Markt am Hermannplatz geht unsere Mutter ungefähr einmal im Jahr. Und auch nur dann, wenn sie vorher direkt nebenan bei Karstadt in der Stoffabteilung gewesen ist.

      »Und gab’s da auch Sprechenden Waschlappen als Hauptgericht?«, fragt Falk sanft. So sanft, dass meine Eltern erst mit ungefähr dreisekündiger Verzögerung erschrocken hochblicken. Franz beginnt jetzt breit zu grinsen. Dann steht er überraschend schnell auf, eilt auf Falk zu, umarmt ihn und küsst ihn links und rechts auf die Wange. Falk macht eine kurze ‚Okay, ist genug‘-signalisierende Handbewegung, die Franz beschämt oder gespielt beschämt zur Kenntnis nimmt; er geht wieder sehr langsam auf seinen Platz zurück. In diesem Moment geht ein wildes Geläute, Geklingel und Gerassel über ihm los. Der Luftstoß seiner plötzlichen Bewegungen hat die Installation des norwegischen Künstlers in Gang gesetzt.

      Tiefe und helle Töne, metallisch und sehr weich klingende, abgehackte und lang gezogene durchweben die Luft, als wäre sie ein einziger riesiger Klangteppich.

      Ich kenne das schon zu Genüge, und höre gar nicht mehr auf die immer neue Geräusch-Sinfonie, zu der die einzelnen Klänge verschmelzen.

      Franz starrt mit offenem Mund an die Decke. Er dreht sich nun im Kreis, den Kopf hochgereckt. Dann hebt er die Hände und macht Schwimmbewegungen. Es ist eindeutig, dass er nicht ganz bei Trost ist, aber meine Eltern geben sich wie immer unbeirrt. »Wo ham Se denn dat gelernt?«, fragt mein Vater mit etwas schrillerer Stimme, als er vermutlich beabsichtigte. »Luftschwimmen«, murmelt Fritz. »Luftschwimmen, Luftschwimmen, Luftschwimmen. Erst Luftgitarre. Boooing! Dann Luftschwimmen. Dann Luftbeten. Zum Klettergerüst.«

      Nun macht Falk einen Riesenfehler. Er ruft laut: »Da sind Jana und ich als Kind manchmal dran hoch!«

      Das stimmt zwar, aber doch auch wieder nicht, denn damals hing die Installation noch nicht an der Decke des Berliner Zimmers, sondern stand beziehungsweise lag im Flur, wo sie in eine Art seltsame, begehbare Möbel-und-Kunst-Landschaft, die unser Vater eigens für uns eingerichtet hatte, integriert war. Meine Eltern wollten uns Kleinkindern Kunst nahe bringen, indem sie begehbare Kunstwerke kreierten, und manchmal auch solche, die eigentlich nicht zur Begehung gedacht waren, eigenhändig ummodelten.

      »Echt? Immer schön raufgeklettert?« Franz dreht sich abrupt um. Er schaut von Falk zu mir und wieder zurück, wie in Zeitlupe, in Trance. Ich spiele jetzt, während ich ihn beobachte, eines meiner Lieblingsspiele. Ich habe es ‚Zeitverschiebung’ getauft. Ich denke mir stets, dass der gegenwärtige Moment eigentlich höchst unwichtig ist, und stelle mir jedermann in meiner Umgebung in allen möglichen Lebensaltern vor. Meine Großmutter als Backfisch, meinen Vater als kämpferischen Studenten, meine Mutter als quengelndes Kleinkind, Falk als liebenswürdigen, aber auch sehr eigenen alten Mann. Die realen Lebensalter, die wirklichen Altersunterschiede zueinander scheinen mir aus einer größeren, weiteren Perspektive höchstirrelevant. Wenn wir über das Zeitalter der Dinosaurier sprechen, unterschlagen wir schnell ein paar Millionen СКАЧАТЬ