Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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СКАЧАТЬ der heiklen Position zwischen Lebenswelt und den Subsystemen Wirtschaft und Verwaltung. Auch hier beschreibt Habermas wiederholt die besorgniserregende Aussicht auf ein Verwaltungssystem, das sich auf problematischen juristischen Wegen ›selbst programmiert‹– und dadurch von der Lebenswelt (oder dem, was er nun manchmal als kommunikative Macht beschreibt) abkapsele. Die Möglichkeit einer juristisch vermittelten Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Verwaltung bleibt weiterhin für seine Diagnose der Missstände unserer modernen Gesellschaft wesentlich. Trotz des Zugeständnisses (wie zuvor in der Theorie des kommunikativen Handelns), dass die Frage, ob die Lebenswelt vom Verwaltungssystem (und dem Medium Macht, nun teils als administrative Macht umschrieben) überwältigt wird, eine empirische bleibe, ist Habermas doch weiterhin um die Möglichkeit einer »tendenziell verselbständigte[n] administrative[n] Macht« besorgt (FG, 400; siehe auch 59 f., 105 f., 186 f., 398 u. 468-537). Ebenso wenig hat er seine Besorgnis bezüglich einer möglichen Verdinglichung in Folge der zunehmenden Hegemonie des Verwaltungssystems über die Lebenswelt vollständig aufgegeben (FG, 391).

      Wie schon in der Theorie des kommunikativen Handelns widmet Habermas auch in Faktizität und Geltung das Schlusskapitel den aktuellen Debatten um mögliche Rechtsreformen: Er ist immer noch, zumindest implizit, der Auffassung, dass sich Kapitalismuskritik als Kritik gesetzlicher Regelung umformulieren ließe – und das in größerem Umfang, als er je begründen konnte. Daraus folgt, dass soziale Reform, in überraschend hohem Maße, Rechtsreform mit sich bringen müsse. Die konstruktiven Reformvorschläge in Faktizität und Geltung betreffen daher die Möglichkeiten neuer ›Paradigmen des Rechts‹.

      Auf der einen Seite gelingt es Habermas, seine früheren Thesen zu aktualisieren; seine juristische Diagnose im letzten Kapitel von Faktizität und Geltung, »Paradigmen des Rechts«, übertrifft ihre Vorgängerversion. Der Kotau des Rechts vor dem Subsystem der Verwaltung bedrohe individuelle Autonomie und generiere gleichzeitig bürokratischen Paternalismus und Normierung. Problematischerweise »programmiert sich die Verwaltung selbst«, besonders dann, wenn ihre Handlungen nicht mehr eng an demokratisch hervorgebrachte Rechtsnormen gebunden sind (FG, 522). Besonders häufig sei diese Gefahr im modernen Sozialstaat anzutreffen, in dem kontraproduktive Formen administrativen und juristischen Handelns zu oft von kommunikationsbasierter Entscheidungsfindung abgekoppelt seien. Mit großer Sorgfalt identifiziert Habermas die Materialisierung des Rechts – und nicht in erster Linie die sogenannten ›gewalttätigen Abstraktionen‹ des klassischen Formalrechts – als einen entscheidenden Faktor in der Marginalisierung der Lebenswelt. So drohe beispielsweise die Ausuferung unklarer und ergebnisoffener Maßstäbe das Prinzip der Gewaltenteilung, deren Aufrechterhaltung für das Gipfeln freier Deliberation in rechtmäßigem staatlichem Handeln wesentlich sei, zu Kleinholz zu verarbeiten. Die administrative Kolonialisierung der Lebenswelt könne durch eine Vielzahl verschiedener Arten des Rechts erfolgen.

      Auf der anderen Seite wiederholen und verschärfen sich in Faktizität und Geltung die teilweise rätselhaften diagnostischen Wendungen, die mit der wachsenden Fokussierung des Autors auf juristische Fragen einhergingen. Obwohl Faktizität und Geltung auf der Theorie des kommunikativen Handelns aufbaut und sich offensichtlich der dort formulierten Umarbeitung der Systemtheorie bedient, erscheint das spätere Buch vom Frankfurter Marxismus noch weiter entfernt. Zwar hebt Habermas die zentrale Rolle weitgehender sozialer und ökonomischer Gleichheit für die Demokratie hervor und spricht von einer Öffentlichkeit, »die aus Klassenschranken hervorgetreten ist und die jahrtausendealten Fesseln gesellschaftlicher Stratifikation und Ausbeutung abgeworfen hat« (FG, 374), doch seine Kommentare bezüglich der kapitalismusbasierten sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten bleiben unsystematisch.30 Trotz seiner offensichtlichen Besorgnis ob der Möglichkeit, dass dem Wirtschaftssystem die Tendenz zur Kolonialisierung der Lebenswelt innewohnen könnte, widmet Habermas seine intellektuelle Schlagkraft erneut hauptsächlich der Übersetzung dieser Sorge in juristische Form: Klassisch-liberales ebenso wie materialisiertes Sozialrecht werden wegen ihrer Fundierung auf ökonomistischen oder »produktivistische[n]« Bildern einer Gesellschaft kritisiert, die den demokratischen Kern des Rechts verzerrten und die private Autonomie gegenüber der öffentlichen privilegierten (FG, 491). Erneut tendiert Habermas dazu, eine ökonomisch begründete Kritik von Monetarisierung und Kommodifizierung in die vergleichsweise engen Grenzen seiner Rechtskritik zu lenken.

      Habermas’ Überlegungen zur Macht in Faktizität und Geltung sind sowohl detaillierter als auch nuancierter als noch in der Theorie des kommunikativen Handelns. Dennoch hält er störrisch an der fragwürdigen These fest, dass die Systeme von Verwaltung und Wirtschaft gleichursprünglichen Status besitzen, und dass sich für beide abstrakte, koordinierende Medien (d. h. Macht und Geld) leicht identifizieren lassen.31 Im vorangegangen Abschnitt habe ich argumentiert, dass dieser Schritt teilweise durch eine hochgradig kontingente und tatsächlich auch kontroverse empirische These zum Kapitalismus der Gegenwart motiviert ist, derzufolge ökonomische und Klassenspannungen in das Verwaltungssystem und die Lebenswelt verlagert würden. Die Tatsache, dass Faktizität und Geltung weiterhin die Hauptpathologien heutiger Gesellschaften auf der Ebene gesetzlicher Regelungen ansiedelt, mag darauf hindeuten, dass Habermas an dieser Darstellung nach wie vor festhält. Zumindest wird sie an keiner Stelle des Buches revidiert.32

      Auf der einen Seite bietet uns Faktizität und Geltung eine kraftvolle und in vielerlei Hinsicht prägnante Neuformulierung der Kritik der Verrechtlichung. Auf der anderen degradiert dieses Werk auf problematische und unvertretbare Weise den Status konventionell-linker Anliegen innerhalb kritischer Theorie – z. B. Klassenpolarisierung, wachsende soziale Ungleichheit und eine Unmenge damit verbundener ökonomischer und sozialer Missstände. Es überrascht daher nicht, dass Habermas’ Demokratie- und Rechtslehre zu diesen bedeutenden Themen, trotz ihrer Wichtigkeit für jüngste politische und gesellschaftliche Entwicklungen, letztlich wenig beitragen kann.

      V.

      Zweifellos bedeuten die von Habermas in Faktizität und Geltung vorgeschlagenen Rechtsreformen (d. h. sein prozessuales Alternativparadigma) einen großen Schritt nach vorne, verglichen mit den unterentwickelten Vorschlägen, die er im letzten Abschnitt der Theorie des kommunikativen Handelns andeutet.33 Es existieren stichhaltige Gründe für Rechtstheoretiker und andere, dieses Paradigma als Leitlinie anzunehmen. Sein größtes Verdienst liegt in dem Bestreben, der Abwertung öffentlicher Autonomie entgegenzuwirken, welche aus Habermas’ Sicht die Achillesferse des ›produktivistischen‹ Formal- und materialisierten Sozialrechts darstellt. Prozessuales Recht hat zum Ziel, »die private und öffentliche Autonomie der Bürger dadurch uno actu zu sichern, daß jeder Rechtsakt zugleich als Beitrag zur politisch-autonomen Ausgestaltung der Grundrechte […] verstanden werden kann« (FG, 494). Weder Formalrecht noch materialisiertes Recht müssten der Kolonialisierung durch Subsysteme unterworfen werden, und pathologische Formen der Verrechtlichung könnten erfolgreich umgangen werden. Prozessuales Recht könnte administrative Macht besser mit kommunikativer Macht verbinden, unter anderem durch eine umfangreicher als zuvor betriebene »Artikulation der Vergleichsgesichtspunkte und einer Begründung der relevanten Hinsichten, die von den Betroffenen selbst in öffentlichen Diskursen vorgenommen werden müssen« (FG, 513). Um es ganz einfach auszudrücken: Der Gesetzgeber würde zwischen konkurrierenden Formen gesetzlicher Regelung (inklusive denen des Formalrechts und des materialisierten Rechts) wählen, und dies »je nach regelungsbedürftiger Materie […]. Denn der reflexive Umgang mit alternativen Rechtsformen verbietet die Auszeichnung des abstrakten und allgemeinen Gesetzes […]« (FG, 528):

      »Der reflexive Umgang mit Recht verlangt vom parlamentarischen Gesetzgeber zunächst Entscheidungen auf einer Metaebene – Entscheidungen darüber, ob er überhaupt entscheiden soll, wer an seiner Stelle entscheiden könnte und, falls er entscheiden will, welche Folgen sich für die legitime Verarbeitung seiner Gesetzesprogramme ergeben« (FG, 529).

      Anders als in den Paradigmen des Formalrechts oder des Sozialrechts wird hier kein spezifisches Rechtsmodell begünstigt: Bürger und Gesetzgeber sind zur Deliberation über spezielle Regulierungsmaßnahmen ebenso verpflichtet wie zu Entscheidungen auf der Meta-Ebene über die СКАЧАТЬ