Название: Mörderisches Taucha
Автор: Jürgen Ullrich
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783957447098
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„Nun würde es aber langsam Zeit. Pünktlich um halb sechs abends würden die Stadttore geschlossen. Das war Sache der Stadtwachen. Die zogen denn noch eine Schlussrunde durch die Stadt, um danach ihren Dienst zu beenden. Bis morgens um halb sieben. Da sperrten sie die Tore wieder auf und die Stadt begann zu pulsieren. Die Zeit dazwischen – ja, das ist dann meine Zeit. Die Zeit des Städtischen Nachtwächters.“
Irgendwie lag Genüsslichkeit in der Stimme Meißners. Berufsstolz? Berufsethos? Kannte Meißner solche Begrifflichkeiten überhaupt? Sicher nicht, aber Gewissenhaftigkeit und Ehrbarkeit. Das war er seinem Berufsstand schuldig. Schließlich war er so etwas wie Beamter auf Lebenszeit. Seine Diäten, vom Rat ihm zuerkannt und personengebunden (!), waren weit entfernt davon, als üppig zu gelten. Auch eine schmale Leibberentung war im sicher, wenn er mal nicht mehr konnte. Und wenn er mal krank würde? Das wäre dann eine Strafe Gottes. Aber Meißner wurde nicht krank. Nie. In seinen langen Nachtwächterdienstjahren fehlte er nur an 15 Tagen.
15 Tage in 47 Dienstjahren.
Meißner räkelte sich ein wenig. Die Herbstsonne freute ihn. Da waren dann auch die Nächte noch nicht so kalt.
Sein Dienst begann abends sieben Uhr.
Acht Mal hatte er Nachtens durch die Stadt zu gehen. Acht Mal. Immer die gleiche Route, vorbei an allen Stadttoren, die nachts umbesetzt waren. Zwischen ein Uhr und drei Uhr brauchte er nicht. Aber er ging trotzdem.
Nur das mit dem Singsang … also er sang nicht.
„Hört ihr Leute, lasst euch sagen, die Uhr hat eben …“ Nee, er, Johann Christoph Meißner sang nicht. Nie. Er hatte ja sein Horn. Und die Dienstvorschrift sah vor, er möge um acht Uhr abends und um halb sechs Uhr morgens laut vernehmlichem Signal geben. Zeit zum Schlafengehen und Zeit zum Füttern und Melken. Das Vieh musste versorgt sein. Das war Ackerbürgerpflicht. Und er gab das Signal. Das wusste mit der Zeit auch das Vieh. Manchmal hörte er hinter den Mauern der Anwesen die Hühner gackern, die Kühe muhen, die Ziegen meckern, die Schweine grunzen. Man kannte sich sozusagen persönlich, erkannte sich, obwohl man sich nie gesehen hatte.
„Also jagen Sie nachts Mörder und Diebe?“
Meißner drehte unwillig den Kopf zur Seite. Die Dame, die ihm soeben diese Frage stellte, hatte ihn schon seit geraumer Zeit beobachtet, nein, eher betrachtet. Was für eine Erscheinung!
Fragen beantworten lag Meißner nicht sonderlich. Er war eher ein schweigsamer Typ. Verschwiegenheit gehörte zu seinen Pflichten als Nachtwächter. Ja, wenn er wöllte, er könne erzählen. Er gehörte wahrscheinlich zu den am besten informierten Bürgern der Stadt. Erzählen könnte er.
Aber er tat es nicht. Dienstgeheimnis bleibt Dienstgeheimnis. Schließlich hatte er einen Eid geschworen.
„Mörder und Diebe?“ Er sah die Frau vielsagend an.
„Manchmal auch. Aber nicht oft, Taucha ist eine ruhige Stadt, da passiert nicht so viel. Viel wichtiger war, für absolute Dunkelheit des Nachts zu sorgen.“
„Wegen der Geisterstunde …“ Agatha kicherte.
„Quatsch Geisterstunde. Ein Nachtwächter glaubt doch nicht an Geister. Zumindest nicht so richtig, obwohl manchmal …“ Meißner lächelt schon wieder verschmitzt. „Nein, gute Frau, aber es war wohl wichtig, zu schauen, dass des nachts die Stadt in Dunkel gehüllt ist. Drang irgendwo Licht aus einem Haus, musste es gelöscht werden. Unbedingt!“ Agatha schickte einen fragenden Blick zu Meißner. „Schauen Sie, gute Frau.“
„Schauen Sie, der ‘Rote Hahn’ war so ziemlich das Schrecklichste, was einer Stadt zu meiner Zeit passieren konnte.“
Erneut traf ein sehr fragender Blick den des Nachtwächters.
„Ach ja, der ‘Rote Hahn’. Brände waren schlimm. Aus kleinen Feuern entwickelten sich oft in Windeseile – und dies im wahrsten Sinn des Wortes – verheerende Flächenbrände, die ganze Städte in Schutt und Asche legten. Die Gebäude einer mittelalterlichen Stadt bestanden fast ausschließlich aus Holz und einem Stroh-Lehm-Gemisch. Steine wurden, wenn überhaupt, nur für Fundamente und für sogenannte Monumentalbauwerke, wie es die Kirchen und Klöster, die Burgen und Rittergüter waren, benutzt. Brannte ein Dorf, eine Stadt, so sah man das weithin. Die Flammen schlugen gen Himmel, rot und gelb, dem Kamm eines Hahnes ähnelnd und bildeten eine grausige Silhouette der niederbrennenden Anwesen. Und die Feuerwehr? Die Feuerwehr gab es noch gar nicht. Jeder löschte so gut er konnte. Ja, so war das damals vor 300 Jahren.
Auf meinen nächtlichen Runden hatte ich folglich sorgsam darauf zu achten, dass in den Quartieren nächtliche Stille und Dunkelheit herrschte. Erblickte ich jedoch in einem Hause noch einen Lichtschein, dann oblag es mir, Zugang ins Objekt zu erreichen, um die Lichtquelle zu löschen. Die Türen fand ich in aller Regel, wenn überhaupt, nur verriegelt. Die noch glimmende Kochstelle, der noch brennende Docht einer Öllampe, die vergessene Kerze – ich löschte sie aus und verließ danach Haus und Hof ebenso leise wie zuvor von mir betreten, nicht, ohne zuvor meine Kennung hinterlassen zu haben: ein weißes Kreidekreuz auf dem schweren Küchentisch.
Die guten Leut dankten mir für meine Wachsamkeit mit Gaben aus Stall und Feld: Eier, ein Stück saftigen Bratens, Gesottenes oder Geräuchertes, manchmal auch Weißfleisch und Erträge aus Feld und Wald. Auch Brennholz für die kalte Zeit, Docht für die Lampe, Brandwein und Bier waren Gaben, die ich gern nahm, denn mein städtisches Salär war schmal, recht schmal. Heute würde man Euro dazu sagen. 94 Euro bekam der Nachtwächter im Dienste der Stadt, sozusagen städtischer Beamter im mittleren Dienst. 94 Euro.“
„Das ist aber nicht viel für den Monat“, meinte die Agatha, die inzwischen dem guten Meißner ganz schön nahe gekommen war.
„Pah, für den Monat?“
Nun musste Meißner aber doch lachen. Es prustete aus ihm heraus, leicht hüstelnd, mit hallender Kehlkopfresonanz, eine Lachsalve.
„Für den Monat? Für das Jahr, für das Jahr gab es 94 Euro. Für das ganze lange Jahr!“
Es dauerte nur wenige Augenblicke und der gute Johann Christoph hatte sich wieder im Griff. Nein, Gefühlsausbrüche kannten die Leute nicht von ihm; er war von ernster Natur. Stets korrekt, immer diszipliniert, demütig und fromm. Wie sich das für Menschen des Mittelalters gebührte. In Frieden mit sich und mit Gott.
Und nur wenn er einmal sehr zufrieden mit seiner Stadt war, ja dann kam es schon mal vor, dass er am Ende seines Rundganges leise, ganz leise zu summen begann: „Hört, ihr Leute, lasst euch sagen, die Glock’ hat eben …“
Ich, Johann Christoph Meißner, verstarb an einem bitterkalten Dezembertag des Jahres 1769. Ich erreichte das für meine Zeit biblische Alter von 86 Jahren.
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