Pünktlich wie die deutsche Bahn?. Johann-Günther König
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Название: Pünktlich wie die deutsche Bahn?

Автор: Johann-Günther König

Издательство: Автор

Жанр: Техническая литература

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isbn: 9783866747128

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СКАЧАТЬ der Gasbeleuchtung, die das Lesen sehr erleichterte, kannte bei den bürgerlichen Passagieren der Wunsch nach Lektüre schließlich fast keine Grenzen mehr.

      Fehlten nur noch die das Lesebedürfnis spezifisch bedienenden »Reise- und Eisenbahnbibliotheken« von Verlagen wie Reclam und natürlich die Händler für Zeitschriften und »Reiseliterarien«. Sie bereicherten hierzulande peu à peu ab 1847 das Bahnhofsleben in Nürnberg, Würzburg, München, Stettin und andernorts – übrigens durchaus später als etwa in England, wo sie ab Beginn der 1840er Jahre üblich geworden waren. 1854 ließ der ungemein produktive Berufsschriftsteller Karl Gutzkow in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd denn auch wissen: »Es ist auffallend, dass sich unsere deutschen Buchhändler, die doch sonst so unternehmerisch sind, noch nicht auf die Eisenbahnen gewagt haben. Sollten sie von dem strengen officiellen Tone, der auf unseren Bahnen herrscht, zurückgeschreckt worden sein? Ein Buchladen auf Stationen, wo sich, wie z. B. in Halle, zwei Linien kreuzen, müsste gute Geschäfte machen; denn mit dem Bücherkaufen geht es in Deutschland doch wie mit dem Einkaufen in Versicherungsanstalten. Man denkt immer und immer daran, will und will und plötzlich hat uns die Gefahr getroffen, wenn es zu spät ist. So kauft man Bücher erst, wenn man sich langweilt, einen Führer erst, wenn man schon reist, eine Karte erst, wenn man sich schon zehn Mal geirrt und seine Mitreisenden durch ein ewiges Ausfragen gelangweilt hat.«15

      Aus den zunächst nur provisorischen Verkaufsständen der örtlichen Buchhändler, erhellt Christine Haug, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bahnhofsbuchhandel als eigenständige Teilbranche des Sortimentsbuchhandels. »Bemerkenswert ist, dass der Verkauf von Reiselektüre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausschließlich über spezielle, funktionale Bücherwagen und Verkaufskioske betrieben wurde. Die geschlossenen, beheizten Verkaufspavillons waren ein Zugeständnis an die Angestellten, denn die Verkäufer litten gerade im Winter unter der Kälte und Zugluft in den Bahnhofshallen. Die von Kunden begehbaren Bahnhofsbuchhandlungen, wie wir sie heute kennen, entstanden erst in den 1950er Jahren.«16

      Um 1870 gab es ein Dutzend Bahnhofsbuchhändler, um 1900 gut zweihundert, um 1930 knapp sechshundert. Ihre Kioske, Verkaufswagen und ausklappbaren Stände fanden sich auf vielen Bahnsteigen bzw. Perrons.17 In seinem 1930 publizierten Artikel Kriminalromane, auf Reisen ließ Walter Benjamin wissen: »Die wenigsten lesen im Eisenbahnwagen Bücher, die sie zu Hause im Regal stehen haben, kaufen lieber, was sich im letzten Augenblick ihnen bietet. Der Wirkung von langer Hand bereitgestellter Bände mißtrauen sie und mit Recht. Außerdem legen sie vielleicht Wert darauf, gerade am buntbewimpelten Fahrgestell auf dem Asphalt des Perrons ihren Kauf zu machen. Jeder kennt ja den Kultus, zu dem es einlädt. Jeder hat schon einmal nach den gehißten, schwankenden Bänden gegriffen, weniger aus Lesefreude als im dunklen Gefühle, etwas zu tun, was den Göttern der Eisenbahn wohlgefällt. Er weiß, die Münzen, die er diesem Opferstock weiht, empfehlen ihn der Schonung des Kesselgottes, der durch die Nacht glüht, der Rauchnajaden, die sich über dem Zuge tummeln, und des Stuckerdämons, der Herr über alle Schlaflieder ist. Sie alle kennt er aus Träumen, kennt auch die Folge mythischer Prüfungen und Gefahren, die sich als ›Eisenbahnfahrt‹ dem Zeitgeist empfohlen hält, und die unabsehbare Flucht raumzeitlicher Schwellen, über die sie sich hinbewegt, angefangen vom berühmten ›Zu spät‹ des Zurückbleibenden, dem Urbild aller Versäumnis, bis zur Einsamkeit des Abteils, zur Angst, den Anschluß zu verpassen …«18

      Zurzeit buhlen rund fünfhundert Bahnhofsbuchhandlungen (2017) um die Gunst von Reisenden. Laut ihrem Verband haben sie »an 365 Tagen im Jahr und mindestens 100 Stunden in der Woche geöffnet«, und deckt sich »jeder dritte Reisende« in einer von ihnen mit der gewünschten Zuglektüre ein19 – nicht zuletzt über die Eisenbahn selbst, über die es unzählige Bücher und eine große Anzahl von Zeitschriften gibt.20 Und wem gedruckte Literatur zu teuer oder nicht geheuer oder bei der Bahnfahrt zu hinderlich ist, den lässt das Internet gewiss nicht im Stich – und WLAN wird in immer mehr Zügen zwar reichlich spät, aber endlich zum Standard.

      Internetsuchmaschinen liefern heutzutage zu jedem bahnspezifischen Stichwort eine Vielzahl von Links, die teils auf bemerkenswert informationsreiche Webseiten verweisen. Eine Fülle von Dokumentar- und Spielfilmen – etwa Mord im Orient-Express – sowie Videos auf YouTube kommen hinzu. Von der 1991 im Dritten Fernsehprogramm des Südwestfunks als Pausenfüller gestarteten Reihe Eisenbahn-Romantik zum Beispiel sind allein bis 2017 über neunhundert Folgen ausgestrahlt worden. Der Eisenbahn-Romantik-Zuschauerclub zählt bereits mehr als 10 000 Mitglieder.

      Apropos Romantik. Als romantisch wird alles Mögliche bezeichnet – die Spanne reicht vom Abendessen bis hin zur Zugfahrt. »Kein anderes Transportmittel eignet sich so sehr für romantische Gefühle wie die Eisenbahn«, betonen gewiefte Marketingexperten, und präzisieren: »Eine Dampflok mit jahrzehntealten Waggons, die gemütlich über die Schienen schleicht, hängt bezüglich der Romantik jedes Flugzeug und jedes schnelle Auto ab. Auf der Schiene lässt es sich gemeinsam träumen, während die Welt langsam vorbeizieht.«21

      Wenn Verkehrsmittel in die Jahre kommen, finden sich Liebhaber und Museumsbetreiber, die sie hegen und pflegen. Wie es scheint, wird bei keinem anderen Verkehrsmittel der vermeintliche »Charme vergangener Zeiten« so gezielt und umfänglich beschworen wie bei der Eisenbahn. Der vielerorts mit großem Aufwand und Engagement aufrechterhaltene Betrieb von Museums- und Schmalspureisenbahnen kommt nicht von ungefähr. Nun kann das Mitfahren auf den Holzbänken eines alten Eisenbahnwaggons dritter Klasse in unserem aufgepolsterten Digitalzeitalter in der Tat ein herrliches Erlebnis sein. Ob jedoch das häufig damit verknüpfte nostalgische Beschwören der »guten alten Eisenbahn« oder der »guten alten Zeit« auch seine Berechtigung hat, also einer historischen Überprüfung standhält, ist doch sehr die Frage. Zu ihrer Beantwortung möchte dieses Buch jedenfalls hinlänglich beitragen. Nicht zuletzt die im Bahnhofsbuchhandel ausliegenden Eisenbahn-Zeitschriften, -Magazine und nostalgischen Bildbände präsentieren so etwas wie das Idealbild einer Eisenbahn, die weder Verspätungen oder Zugausfälle noch drangvoll überfüllte Wagen und andere unschöne Begleiterscheinungen kennt. Schön wär’s.

      Nun wurden ausgerechnet während der Romantik, deren große Geister die Abwendung von der Zivilisation und Hingabe zur Natur einforderten, gleich zwei motorisierte Verkehrsmittel in die Welt gesetzt, die alles andere als idyllische Zustände heraufbeschworen: 1801 fuhr das erste taugliche Automobil (mit Dampfmaschinenantrieb) durch die Landschaft und 1804 die erste Eisenbahn. Als 1835 die Epoche der Spätromantik in den letzten Zügen lag, eröffnete am 7. Dezember die auf Aktien gegründete Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft die erste deutsche Bahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth. Die Personenwagen wurden übrigens zunächst nicht ausschließlich von der Dampflok »Adler«, sondern aus Kostengründen auch von Pferden gezogen. Aber was machte das schon: Einen Anschlusszug, den Reisende hätten verpassen können, gab es ja weder in Nürnberg noch in Fürth.

      Als der deutsche Eisenbahnverkehr mit Dampfkraft in Fahrt kam, stieß dies bei zahlreichen zeitgenössischen Beobachtern nicht eben auf begeisterte Zustimmung. Der Literat Karl Immermann kommentierte das Geschehen mit den Worten: »Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die Unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel so lange als möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.«22 Johann Wolfgang von Goethe, der die Eisenbahn fahrend nicht mehr zu Gesicht bekam, hatte bereits im Oktober 1825 vorsichtshalber angemerkt: »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt, Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.«23

      Fest steht, dass die im Laufe des 19. Jahrhunderts im deutschen Kleinstaaterei-Gebilde mit einiger Verzögerung einsetzende Industrialisierung der Arbeits- und Alltagswelten ohne die Revolutionierung СКАЧАТЬ