Wenn dies so ist, wenn also die Philosophie nach Marcuse nicht mehr bloß theoretisch bleiben darf, wenn sie sich ihrer geschichtlichen Situation mit ihren politischen Aufgaben stellen, wenn sie konkret und geschichtlich werden muss, wie kann so eine Philosophie dann eine ontologische Analyse des Seins des menschlichen geschichtlichen Lebens durchführen? Wie kann eine konkrete Philosophie die ontologischen Grundstrukturen oder Grundmöglichkeiten des geschichtlichen Lebens herausarbeiten? Wie kann sie etwas, das selbst nicht geschichtlich ist, aber schon Bedingungsmöglichkeit des geschichtlichen Geschehens enthält, herausstellen?
In der Antwort auf diese Fragen finden wir die wichtigste Spannung in Marcuses Frühwerk. Auf einer Seite gibt es bei Marcuse die Forderung nach Bewusstwerdung der eigenen konkreten Geschichtlichkeit des Denkens. Diese beinhaltet zugleich das Bewusstsein der notwendigen Stellungnahme der Philosophie in einer von sozio-politischen Konflikten bestimmten geschichtlichen Situation. Auf der anderen Seite bleibt Marcuse dem Anspruch auf eine ontologische Analyse des geschichtlichen Lebens treu, d. h. der Geschichtlichkeit überhaupt, als Analyse jenseits des Antagonismus zwischen entgegengesetzten ideologischen Standpunkten.37 Wenn diese Forderung auf eine Art von kritischer Theorie im Sinne von Max Horkheimers Aufsätzen der 1930er Jahre verweist,38 bleibt dieser Anspruch zugleich aber doch auch ganz in der Nähe von Heideggers Fundamentalontologie.39 Diese zentrale Spannung in Marcuses Frühwerk wird auch durch die Veröffentlichung von Marx’ Pariser Manuskripten von 1844 und Marcuses enthusiastischen Stellungnahmen dazu nicht gebrochen. Die zwei Aufsätze, die Marcuse 1932 und 1933 dazu veröffentlicht – Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus und Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriff40 – zeigen, dass er vielmehr umgekehrt Marx’ Manuskripte als Bestätigung für die Richtigkeit seines Versuchs aufnahm, mit Hilfe von Sein und Zeit eine materialistische bzw. dialektische Phänomenologie der Geschichtlichkeit zu unternehmen. Tatsächlich finden wir in diesen Aufsätzen eine Auffassung der Arbeit im Sinne der von Marcuse 1928 vorgeschlagenen dialektischen Phänomenologie als ontologisch bzw. anthropologisch – als Praxis der Selbstverwirklichung des Menschen (und deswegen als eigentliches Geschehen der menschlichen Geschichtlichkeit) und zugleich eine Betrachtung der geschichtlich konkreten Realisierungen der Arbeit in den verschieden sozio-ökonomischen Ordnungen.
Die Zäsur in Marcuses philosophischer Tätigkeit ist dann auf äußere, nicht auf theoretische Faktoren zurückzuführen: Im Frühjahr 1933 verließ Marcuse Deutschland in Richtung Schweiz als neuer Mitarbeiter des von Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung nach dem Scheitern seines Versuchs, sich in Freiburg bei Heidegger zu habilitieren.41 In diesem neuen Kontext bestimmte Marcuse nun in enger Zusammenarbeit mit Horkheimer sein theoretisches Projekt in Richtung einer kritischen Theorie der Gesellschaft neu. Horkheimer war damals kritisch gegenüber der Ontologie und der philosophischen Anthropologie eingestellt, und in dieser neuen Richtung gab es offiziell keinen Platz mehr für ontologische phänomenologische Ansprüche.42 Auch vollzog sich im Jahr 1933 ein weiteres Ereignis, das Folgen für die theoretische Entwicklung Marcuses hatte: Im März 1933 hatte Heidegger in Einklang mit dem neuen Nazi-Regime das Rektorat der Freiburger Universität aufgenommen. Für Marcuse war dies ein persönlicher und ein philosophischer Schock zugleich, der seine Bewertung Heideggers für immer ändern sollte.43 Im Jahr 1963 schrieb er in diesem Sinne in einem Brief an den tschechischen Philosophen Karel Kosík: »Heideggers positive Haltung dem Nazismus gegenüber ist meiner Meinung nach nur der Ausdruck des zutiefst anti-humanen, geist- und lebensfeindlichen, geschichtlich reaktionären Grundzugs seiner Philosophie.«44 Diese beiden Faktoren haben dann für Marcuse den Weg frei gemacht für eine radikale Historisierung der Philosophie, für ein radikales Konkret-Werden der Philosophie, die in Richtung einer kritischen Theorie der Gesellschaft führte und die für eine phänomenologische Analyse der ontologischen Grundstrukturen der Geschichtlichkeit keinen Raum mehr ließ.
Das heißt, zusammengefasst, dass Marcuse seine positive Haltung gegenüber der fundamentalen Ontologie nicht aufgrund einer theoretischen Selbstkritik aufgegeben hat. Es waren biographische und geschichtliche Ereignisse, die ihn motiviert haben, eine Änderung in seiner theoretischen Arbeit vorzunehmen. Nach 1933 war Marcuse letztlich davon überzeugt, dass eine kritische theoretische Analyse der bestehenden Gesellschaft keine Ontologie des geschichtlichen Daseins braucht und der Anspruch auf eine ontologische Geschichtlichkeit die wirkliche Geschichte verfehlt. Aber die Voraussetzungen dieser »Kehre« waren bei Marcuse, wie gesagt, keine rein theoretischen Gründe; vielmehr handelte es sich vor allem um die große Heidegger-Entäuschung und den Anfang seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter unter der Leitung von Horkheimer. Die Frage hier ist nicht, ob in seinem späteren Werk heideggerianische Motive zu finden sind – meiner Meinung nach sind solche Motive noch ziemlich oft zu finden. Entscheidend ist, dass bei Marcuse die heideggerianische Idee einer fundamentalen Ontologie des geschichtlichen Daseins später keine Rolle mehr spielt. In diesem Sinne können wir 1933 für Marcuses Denken als eine echte philosophische Zäsur ansehen. Die philosophische Spannung zwischen 1928 und 1933 – der Anspruch auf eine Synthese von Ontologie und Historischem Materialismus – verschwindet, weil eines der Momente – das Projekt einer Ontologie des geschichtlichen Daseins – verabschiedet wird.
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