Sein Leben schreiben. Emil Angehrn
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Название: Sein Leben schreiben

Автор: Emil Angehrn

Издательство: Автор

Жанр: Афоризмы и цитаты

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isbn: 9783465242994

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СКАЧАТЬ aufgenommen und weitergeführt werden – Kriterien der objektiven Wahrheit oder der ästhetischen Gestalt, der kognitiven Durchdringung und der lebensweltlichen Eignung. Immer geht es darum, wie der Mensch in der Aneignung seines Lebens mit sich zurechtkommt, wobei das Ideal einer erzählbaren Geschichte nur ein – doch ein zentrales, nicht kontingentes – Modell des Einswerdens mit sich und seinem Leben darstellt.

      Wieweit sich die Strukturen des Lebens und des Erzählens von sich aus zueinander fügen und ob das narrative Modell das Leben als ganzes umfasst oder seinen genuinen Ort nur innerhalb des Lebens, als Gefüge einzelner Epochen und Episoden besitzt12, mögen offene Fragen sein. Ein entfremdeter, desintegrierter Lebensverlauf kann sich der erzählenden Formgebung und subjektiven Aneignung widersetzen.13 Unabhängig davon zeigt sich die biographische Arbeit als eine Weise, sich mit der Zerrissenheit und Fragilität des Selbst auseinanderzusetzen, gegen Diffusion und Desintegration feste Gestalt und Identität zu gewinnen. Sie kann ihr Ziel darin haben, sich mit seinem Leben zu versöhnen, über Lebensekel und Leiden hinauszukommen, ja, sie kann sich darüber hinaus unter Leitvorstellungen des erfüllten Lebens, des Glücks stellen, die Erzählung selbst zu einem Moment des guten Lebens werden lassen. Ob solche Ideale erreicht werden, ob die Lebensbeschreibung gelingt oder scheitert, wieweit sie stabilisierungsfähig ist oder prekär bleibt, einer wahren Selbstfindung zugutekommt oder der Selbsttäuschung zuarbeitet – all dies ist vom realen Leben wie seiner konkreten Beschreibung gleichermaßen abhängig.

      Nach einer anderen Hinsicht ist das Telos der Lebensbeschreibung mit der zeitlichen Verfassung des Lebens verwoben, der Besinnung auf das Vergangene und dem Ausgriff auf das Ganze. Wenn die narrative Form ihr Grundgerüst ist, so ist der Rückblick ihre originäre Blickrichtung; der retrospektive Vorgriff bildet die Kernstruktur des narrativen Satzes14, das Präteritum ist die Zeitform der Erzählung.15 Lebensbeschreibung handelt von Vergangenem, ihr Antrieb und ihre Leistung liegen nicht zuletzt im Widerstand gegen das Vergehen und Entschwinden des Lebens. Sie hält für die Gegenwart fest, was nicht mehr da ist; sie sucht, gräbt aus, rekonstruiert, was teils im Gedächtnis und in Dokumenten niedergelegt ist, teils unsichtbar und abwesend ist, sich der Vergegenwärtigung entzieht. Lebensbeschreibung ist Ausdruck des Bedürfnisses, sich in seinem Leben zu sammeln, sich im Zusammenhang seines Lebens als ganzem zu erkennen. Der Wunsch, sich in seinem Leben gegenwärtig zu werden, ist Movens des Schreibens des Lebens. Rilke spricht von der Notwendigkeit, das »Diktat des Lebens« nachzuschreiben.16 Die Rede vom Diktat und Nachschreiben spielt darauf an, dass es etwas zu hören, zu lesen gilt, dass das Leben selbst spricht und einen Sinn transportiert, der vom Diktatschreiber in Wahrheit aber nicht nur registriert und transkribiert, sondern zur Sprache gebracht, in seiner Bedeutung entfaltet und herausgestellt werden muss. Dem Bedürfnis des Menschen, sein Leben zu schreiben, korrespondiert die Notwendigkeit des Lebens, artikuliert zu werden und eine Sprache zu finden.

      Menschen leben so, dass sie sich zugleich ihr Leben erzählen. Die Reflexivität menschlichen Lebens erstreckt sich über das Gewahrwerden seiner selbst und das Sich-über-sich-Verständigen hinaus auf das Erinnern und Sicherzählen. Sein Leben erzählen, aus seinem Leben erzählen ist nicht eine äußere Zutat zum Leben, sondern inneres Moment einer Lebensform. Wenn Selbstverständigung als praktische Orientierung originär zukunftsgerichtet ist, so ist die narrative Selbsterfassung ursprünglich dem Vergangenen zugewandt; zugleich ist sie auf das Ganze geöffnet, mit der unabgeschlossenen singulären Geschichte des Selbst befasst. Das Schreiben des Lebens kann ebenso offen sein wie das Leben selbst, wie dies bei Tagebüchern der Fall ist, welche ein Leben nachdenkend begleiten, oder bei Werken, die ins Offene, Unabschließbare gehen.17 Solches Schreiben geht in das Leben selbst ein und kann dem Leben zugutekommen. Auch wenn dies nicht in dem Sinne der Fall sein muss, dass der einzelne gleichsam antizipierend als Historiograph seiner selbst sein Leben führt, sondern er sich über sein gegenwärtiges Handeln und Erleben verständigt und sich rückblickend seines Lebens vergewissert, kann diese Reflexion zum inneren, substantiellen Element seines Lebens werden. Lebensbeschreibung wird Teil der Bewegung des Lebens selbst. Sie partizipiert an dessen Offenheit und unterliegt zuletzt seiner Endlichkeit. Der Versuch, aufzeichnend sich selbst und sein Leben einzuholen, vollzieht sich im Leben und in der Zeit des Lebens, steht selbst im Wettlauf mit der Zeit.18 Erst am Ende könnte der Mensch seine Lebensbilanz ziehen, über sein Leben und dessen Gelingen Rechenschaft ablegen, wie wir nach Aristoteles das Glück eines Menschen erst nach seinem Tod beurteilen können. Auch Rilke spitzt seine Forderung dahingehend zu, »das ganze Diktat des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben; denn es möchte sein, dass erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt.«19 Indessen bleibt dieser Ausgriff, ob er nun mit einer versöhnlichen oder einer ängstigenden Vision verbunden sei, in der Schwebe, bleibt der Wunsch, das Leben »auf seinem letzten Stand zu ertappen«, so Christa Wolf, »ein unstillbares, vielleicht unerlaubtes Verlangen«.20 Dem Menschen verbleibt das von Proust beschriebene Gefühl der Dringlichkeit, die Angst, in der Selbstbeschreibung und Erfassung seines Lebens zu spät zu kommen. Auch dieses Gefühl, Kehrseite der nicht zu schließenden Offenheit, gehört zur existentiellen Verfassung des Lebens und seines Fürsichwerdens.

       2. Leben in der Zeit

       2.1 Zeit und Zeittranszendenz

      Zeit ist dem Menschen so fundamental wie die Sehnsucht nach der Freiheit von der Zeit. Der Urgegensatz zwischen der Zeit und ihrem Anderen weist in die ältesten Ursprünge der Denkgeschichte zurück. Für klassische Metaphysik ist das wahrhafte Sein ein zeittranszendentes Sein, jenseits des Entstehens, des Wandels und des Vergehens. Schon Parmenides, wichtigster Wegbereiter metaphysischen Denkens, beschreibt das Seiende als eines, das weder war noch sein wird, sondern jetzt, zusammen, ganz, eins ist1: Reine Gegenwart ist das absolut Andere der Zeit, jenseits des Flusses des Werdens und Veränderns, der Zerstreuung ins Gewesene und Noch-nicht-Seiende. Zeit erscheint als Negativum, als Seinsmangel. Was zeitlich ist, was in der Zeit existiert, ist nur in defizitärer Weise seiend.

      Dieses Spannungsverhältnis, das in der Philosophie in seinen ontologischen und logischen Konsequenzen durchmessen wird, affiziert von vornherein das menschliche Leben. Der Mensch lebt in der Zeit, er ist glücklich in der Zeit und er leidet unter der Zeit, er sehnt sich nach dem Jenseits der Zeit. Im Folgenden soll die Frage nach der Zeit in dieser existentiellen Bedeutung, nicht ihrer metaphysischen und epistemologischen Weite verhandelt werden. Indessen ist auch in dieser eingeschränkteren Perspektive relevant, dass die systematische Dichotomie zwischen der Zeit und ihrem Anderen keine einfache ist und der gängige Begriffsgegensatz von Zeit und Ewigkeit das in Frage stehende Verhältnis nicht abschließend beschreibt. Jenseits der zeitlichen Prozessualität lassen sich unterschiedliche Gegeninstanzen auseinanderhalten: die reine Zeitlosigkeit dessen, was nicht temporal verfasst ist (logische Verhältnisse, Zahlen), die Dauerhaftigkeit des Seienden, das keinem Entstehen und Vergehen unterworfen ist (die Gestirne bei Aristoteles), die ›ewige‹ Immergleichheit dessen, was sich endlos in derselben Weise bewegt und reproduziert (die Wiederkehr des Gleichen, das mythische Verhängnis), die Ewigkeit des ewigen Lebens als jene Zeittranszendenz, die nicht die innere Bewegtheit hinter sich lässt, sondern sie auf einer höheren Ebene vollzieht, schließlich die Ewigkeit in der Zeit (als Teilhabe des Lebens am Ewigen, Mimesis ans Ewige, zeitloses Verweilen).2 Im Blick auf diese strukturelle Vielfalt geht es etwa in metaphysikkritischen Diskussionen darum, die von metaphysischen Positionen anvisierte ›Ewigkeit‹ als eine des Zeitfremden oder zwanghaft Immergleichen zu entlarven und ihr gegenüber die in einem höheren Leben vollzogene Transzendenz des Vergänglichen zu kontrastieren. Ebenso stellt sich mit Bezug auf den lebensinternen Umgang mit der Zeit die Frage, in welche Formen er sich ausdifferenziert und inwiefern in diesen zugleich die übergreifende Polarität von Zeit und Zeittranszendenz ausgetragen wird. Im Ganzen bleibt die Differenz zwischen der Zeit und ihrem Anderen für die Frage nach der Zeit kulturgeschichtlich und anthropologisch grundlegend. Nach der Zeit zu fragen heißt auch nach ihrer Grenze, ihrer Überwindung und ihrem Jenseits zu fragen.

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