Название: Dschihad als Ausweg
Автор: Nina Käsehage
Издательство: Автор
Жанр: Социальная психология
isbn: 9783866746459
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Der Name Tschetschenien oder Tschetschene ist nicht tschetschenischen Ursprungs, sondern dem Dorf entlehnt, das die zaristischen Armeen zuerst eroberten.60 Die Tschetschenen nennen sich selber Nokhcho bzw. ihr Volk die Nokhchi Q'am (die tschetschenischen Leute) und ihre Sprache Nokhchi Mott.61
Trotz der anhaltenden Verleumdung der Tschetschenen als »unzuverlässige Menschen« durch russische Medien und der kontinuierlichen, gewaltsamen Versuche der »Russifizierung« der Tschetschenen, konnte sich Tschetschenien in den 1960er und 1970er Jahren erneut zu einem Industriezentrum ausbauen, dessen Zentrum Grosny für seine kosmopolitische Prägung und die multikulturelle Harmonie weit über die Grenzen des Landes bekannt war.62
Im Winter 1990 wurde im tschetschenischen Volkskongress die Unabhängigkeit der Republik ausgerufen und durch eine schriftliche Erklärung diese staatliche Souveränität manifestiert.63 Infolge eines Putsches wurde im Zeitraum von August bis zum September 1991 »der Oberste Sowjet der Republik aufgelöst, die Macht ging auf außerkonstitutionelle Organe über, die Neuwahlen ansetzten und eine Loslösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation« forderten.64 Fortan wurde eine »Tschetschenisierung« aller Lebensbereiche vollzogen, in deren Kontext viele russisch-sprachige Bevölkerungsangehörige das Land verließen.65 Der gemäßigte erste Präsident der tschetschenischen Republik Itschkeriya, Dshochar Dudajew,66 wurde zum Anführer der »tschetschenischen Revolution« und leitete die »neue« Republik von 1992 bis zu seinem Tod durch eine Zielsuchrakete im April des Jahres 1996.67 Zuvor war er in der sowjetischen Luftwaffe bis zum Generalmajor aufgestiegen und hatte Russland bis zu dessen Okkupationsversuch stets freundlich gegenüber gestanden.68
Im Kontext der Revolution des Jahres 1991 ereignete sich auch ein gesellschaftlicher, tschetschenischer Umschwung, bei dem die »tschetschenische Intelligenzija«, beeinflusst von gesellschaftlichen Randfiguren mit radikalen Tendenzen, einen weniger sachlich fundierten, jedoch aggressiveren politischen Kurs anstrebte, wie Politkovskaja konstatiert:
»Die ökonomische Führung fiel an Menschen, die nicht wussten, wie man eine Wirtschaft leitet. Die Republik war wie im Fieber, übte sich in endlosen Meetings und Demonstrationen, während das tschetschenische Erdöl still und heimlich in unbekannte Richtung abfloss. Als Folge dieser Ereignisse begann im November-Dezember 1994 der erste Tschetschenien-Krieg.«69
Die russische Strategie, die unterschiedlichen teips gegeneinander auszuspielen, schlug fehl, da diese sich stattdessen verbündeten, und das gemeinsame tschetschenische Nationalbewusstsein kulminierte. Infolgedessen wurden den russischen Truppen zahlreiche Verluste während der Gefechte im Zuge des Sturms auf Grosny von tschetschenischen Einheiten beigebracht.70 Nach vier Monaten andauernder Kämpfe war die Stadt stark zerstört, und der Krieg erstreckte sich über das ganze Land.71 Im Jahr 1996 gab es auf russischer sowie auf tschetschenischer Seite über 200 000 Opfer zu beklagen.72 Mitte des Jahres 1996 reiste der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, General Alexander Lebed,73 nach Tschetschenien, um ein Ende dieses Krieges mit den Tschetschenen auszuhandeln. Im August 1996 kam es zu einem Friedensschluss in Form einer politischen Artikulation, der Chassawjurt Erklärung74, sowie der Aushandlung von »Prinzipien für die Bestimmungen der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik«, welche einen Status der »Nicht-Kriegszeit« für fünf Jahre festlegte und von Lebed und Maschadow, Dudajews früherem Generalstabschef, unterzeichnet wurde.75 Die russischen »Förderations-Streitkräfte« waren mit Chassawjurt nicht zufrieden, da dieser Vertrag sie ihrer Ansicht nach daran hinderte, »die Sache zu beenden und sie stattdessen öffentlich demütigte«.76
Nach dem ersten tschetschenisch-russischen Krieg, bei dem Russland schwere militärische Niederlagen erfahren und in der Folge Reparationsleistung an Tschetschenien zugesichert, jedoch nie gezahlt hatte77, erstarkte eine wahabitisch geprägte Religionsgemeinschaft in Tschetschenien, die von dem saudischen Omar Ibn al-Chattab78 angeführt wurde und die tschetschenische Bevölkerung mit Geld und extremistischer Ideologie vereinnahmte79, die u. a. den kriegerischen Dschihad als ehrbare Aufgabe und die Gemeinschaft der Wahabiten als bedeutsamer als den Zusammenhalt der traditionellen teips, der tschetschenischen Klan-Struktur, postulierte.80
Dudajews Nachfolger wurde Anfang des Jahres 1997 Aslan Maschadow,81 Dudajews früherer Generalstabschef und ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee.82 Im Mai 1997 unterzeichnete Maschadow einen »Vertrag über Frieden und die Prinzipien friedlicher bilateraler Beziehungen«83 mit Jelzin.84 Weitere Friedensbeziehungen wurden jedoch von verschiedenen, untereinander verfeindeten, militärischen Anführern85, darunter u. a. Schamil Bassajew86, ein radikal-islamischer Fundamentalist, gestört. Dieser nutzte den verzögerten staatlichen Strukturaufbau und die damit verbundene, desolate Situation der Bevölkerung in Tschetschenien mit Hilfe saudischer Geldgeber und wahabitischer Gelehrten dazu, um die zunehmende Perspektivlosigkeit in Kriminalität und radikal-islamischen Terrorismus zu kanalisieren.87 Bassajew ist in Bezug auf seine inkonsistente Loyalität als eine schillernde Persönlichkeit zu bezeichnen, da er sowohl mit Dudajew Seite an Seite in der sowjetischen Armee gekämpft hatte, Feldkommandeur im tschetschenischen Widerstand während des ersten tschetschenisch-russischen Kriegs war, jedoch zugleich vom russischen Auslandsgeheimdienst, Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) des Generalstabs der Russischen Föderation, ausgebildet und als Söldner der Abchasen, die vom Kreml protegiert wurden, im Georgisch-Abchasischen Krieg, der von 1993 bis 1994 stattfand, gekämpft hatte.88 Zudem zeichnet er für den 1995 organisierten Streifzug seiner Truppen in Richtung Budjonnnowsk verantwortlich, bei dem sowohl Patienten als auch Personal eines Gebietskrankenhauses sowie eines Entbindungsheimes als Geiseln genommen wurden.89 Es kann demnach konstatiert werden, dass Bassajew und nicht Maschadow mit zivilen Geiselnahmen von sich reden machte und diese ohne zu zögern für seine politischen Zwecke einsetzte.90
Am 23. Juni 1998 gab es einen Attentats-Versuch auf Maschadow, den dieser jedoch überlebte, und drei Monate später verlangten die Feldkommandeure, die von Bassajew angeführt wurden, der zu dieser Zeit Premierminister Tschetscheniens war, Maschadows Rücktritt und trieben das Land durch ihre Partikularinteressen selber fast in einen Bürgerkrieg.91 Selbst die Einführung der Schariats-Jurisdiktion zu Beginn des Jahres 1999, nach der eigenmächtig agierende Feldkommandeure öffentlich exekutiert wurden, konnten die Segregationsbestrebungen der einzelnen Gruppen nicht mehr unterbinden.92
Zusammen mit Chattab93 unternahm Bassajew im Juli 1999 den Versuch, das Nachbarland Dagestan in den tschetschenischen Widerstand gegen Russland zu involvieren,94 indem beide mit ihren Truppen in die dagestanischen Siedlungen Sondak, Rachata, Bottlich und Ansalta im Gebirge sowie in die Täler Karamachi sowie Tschabanmachi vordrangen,95 was Putin im Oktober 1999 dazu veranlasste, russische Truppen nach Tschetschenien zu entsenden.96 Der nun beginnende, zweite tschetschenisch-russische Krieg97 wurde als »Kampf gegen den Terror im Nordkaukasus« deklariert98, was aufgrund der Vorgeschichte beider Länder als Kriegsgrund recht monokausal wirkte, obwohl zweifellos das Erstarken radikal-islamischer Kräfte eine tatsächliche Rolle im zweiten Krieg spielte, jedoch nicht ursächlich dafür war, sondern, wie zuvor beschrieben, als Folgeentwicklung aus dem ersten Krieg betrachtet werden kann, die Tschetschenien in desolate wirtschaftliche und soziale Verhältnisse zurückgeworfen und damit den Boden für wahabitische Extremisten bereitet hatte.99 Putin kultivierte als neuer russischer Premierminister seine Reputation als »eiserne Faust« gegenüber russischen Gegnern und wurde im März 2000 durch die Konstruktion dieses Images zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Obwohl er mehrfach die Möglichkeit gehabt hätte, den Krieg zwischen Tschetschenien СКАЧАТЬ