Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41. Hanno Plass
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СКАЧАТЬ günstig. Man meint sich dem finsteren Mittelalter, den Vorstellungen der Wilden und den Spekulationen der Philosophen entronnen und überlegen, aber jene Verhältnisse unterminieren ein Denken, das nach Objektivität strebt, indem sie die Bildung selbst, die nur in der Muße gedeiht, zum ökonomischen Mittel erniedrigen. Der objektive Zusammenhang der Gesellschaft wiederum tritt dem Einzelnen als eine fremde Macht gegenüber, die das Verständnis an der Oberfläche abweist.15 Deshalb gedeihen »die fatalen Konventikel und Panazeen«16: Theosophie, Numerologie, Astrologie etc. und im heutigen akademischen Betrieb unter dem Namen ›Konstruktivismus‹ eine Erkenntnistheorie, die allen bestätigt, dass man gar nicht anders könne, als die Welt willkürlich mit Sinn zu belegen. Denkt man an Humboldts Bestimmung, Bildung sei Durchdringung von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, eine Einheit von Rezeptivität und Einbildungskraft, wird einem der Abstand schmerzlich bewusst.

      Ökonomisierung der Bildung bedeutet für Adorno zunächst, dass die Kulturprodukte die Form von Waren annehmen und im Hinblick auf ihre Warenfunktion produziert werden. Kulturindustrie ist der korrespondierende Begriff zur Halbbildung, der sich keiner zu entziehen vermag. In den Bildungsinstitutionen selbst war das ökonomische Prinzip seit langem vertreten durch das Ziel der Ausbildung. Was man in der Ausbildung lernt, soll nützlich sein für einen späteren Beruf, für die Erwerbsarbeit. Seit Ende der 1960er Jahre hat sich in jenen Institutionen – ich spreche über deutsche Verhältnisse – eine Wandlung vollzogen, die für Adorno noch am Horizont gelegen hat. Ausbildung hat sich auf Kosten von Bildung ausgedehnt. Geisteswissenschaftliche Fächer verschwinden aus den Universitäten, wie Martha Nussbaum in ihrem Buch Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities am Beispiel der USA gezeigt hat.17 Ausbildung produziert eine Ware: die Arbeitskraft der Abgänger. Aufgabe der Schulen und Hochschulen ist es, die Produktion des Ausstoßes nach wirtschaftlichen Zielen zu regeln. Die Ausbildung selbst wird zu einem wirtschaftlichen Produktionsprozess, auf den eine rationale Betriebsführung anzuwenden ist: Kosten und Nutzen müssen im richtigen Verhältnis stehen. Dem dienen Regelstudienzeiten und Studiengebühren. Mehr noch: Der Unterricht selbst ist ökonomischen Kategorien unterworfen worden, ohne zu fragen, ob eine solche Subsumtion noch dem Prozess der Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse gerecht werden kann. Seit ihrer Einführung um 1800 war die Notengebung ein Instrument, um die Konkurrenz unter den Lernenden im Hinblick auf ihre späteren Berufsaussichten zu fördern. Die Einführung von ECTS-Graden soll die letzten Schlupflöcher stopfen und verschärft die administrative Sortierung des Menschenmaterials. Der Lernprozess wird der abstrakten Zeit unterworfen, als handele es sich um eine Tätigkeit nach dem Muster der Fabrik- oder Büroarbeit. Vieles von den neuen Errungenschaften ist blanke Ideologie, die der Wirklichkeit nach wie vor nicht entspricht, und gleicht, wie der fürchterliche workload, den Dörfern des Fürsten Potemkin. Dennoch hat auch die Ideologie ihre Wirkung und der indirekte Lehrplan ist keineswegs geheim. Alle Beteiligten sollen lernen, ihre Aktivitäten ökonomisch zu betrachten: nach den Kategorien von Nützlichkeit und instrumenteller Rationalität, von Tauschwert und Konkurrenz. Diese Entwicklungen müssen als eine Verschärfung der Probleme gesehen werden, die Adorno untersucht hatte. Mit Bildung im überkommenen Sinn hat all dies nichts zu tun.

      Nach Adorno besitzt der tradierte Bildungsbegriff trotz seiner unwiderruflichen Aushöhlung eine heuristische Funktion. Die Erinnerung an das falsche, weil an Privileg und machtgestützte Innerlichkeit gekettete, Vergangene macht es möglich, die falsche Gegenwart schärfer ins Auge zu fassen. Die Verwirklichung der Bildungsutopie im Sinne von Morus, Humboldt und Marx ist für Adorno kein praktisches Ziel mehr. Das bedeutet freilich nicht, dass er dem Bereich der Bildung keine praktische Bedeutung zumisst oder dass er mit seinen bildungstheoretischen Überlegungen keine praktischen Ziele verfolgen würde – im Gegenteil. Als Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik vermehrt Hakenkreuzschmierereinen zum Beispiel auf jüdischen Friedhöfen auftauchten und durch den Auschwitzprozess von 1963 - 1965 die Haltung zur nazistischen Vergangenheit ein öffentliches Thema wurde, hat sich Adorno mit einer Reihe von Beiträgen zu Wort gemeldet.18 Sie wurden in einem Band mit dem Titel Erziehung zur Mündigkeit gesammelt, der das am meisten verbreitete Buch Adornos sein dürfte. An die Stelle der Bildungsutopie tritt eine politische Präventionspädagogik, die sich der Forderung unterstellt, dass Auschwitz sich nicht wiederholen dürfe. Hauptziel dieser Pädagogik ist die Fähigkeit zur Selbstbesinnung. Im Begriff der Mündigkeit steckt der alte bürgerliche Anspruch auf Autonomie durch Aufklärung, aber die Hoffnung hat sich zurückgezogen darauf, dass Menschen nicht mehr bereit sind, »ohne Reflexion auf sich nach außen zu schlagen.«19

      Adornos bildungspolitische Vorschläge folgen seiner bereits auf die 1940er Jahre zurückgehenden Analyse der Persönlichkeitstypen, bei denen sich die Bereitschaft zu einer feindseligen Einstellung gegen ethnisch oder sozial designierte Gruppen findet. Während seine konkreten Handlungsvorschläge zeitgebunden sind, bleiben die allgemeinen Zielsetzungen verbindlich. Adorno hält für das »Allerwichtigste […], der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten.«20 Zu fördern sei »die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.«21 Das gilt zunächst auf der ideologischen Ebene, auf der die Wirksamkeit des Nationalismus besondere Beachtung verdient. Das gilt aber auch auf der Ebene der Alltagspraxis, in der schmerzvolle Initiationsriten eine Rolle spielen: man denke an das Militär, Sportvereine, Schulklassen. Der Sinn solcher Riten besteht darin, dem Individuum die Macht des Kollektivs spürbar zu machen. Sie verstärken die fatale Mischung aus Masochismus und Sadismus, die sich im »Ideal […] der Härte« ausspricht: »Das gepriesene Hart-Sein […] bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin«, zumal den der Anderen. »Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen mußte. Dieser Mechanismus ist ebenso bewußt zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt«22.

      Die Unfähigkeit zur Identifikation, zum Mitleid, ist für Adorno die wichtigste psychologische Bedingung für das Mitläufertum in der Nazizeit gewesen.23 Wie wir sehen werden, hat Martha Nussbaum der Förderung von Empathie viel Aufmerksamkeit geschenkt, mehr als Adorno, der über eine allgemeine Empfehlung, sich den Bedürfnissen des Kindes gegenüber aufgeschlossen zu verhalten und Versagung abzubauen, nicht hinausgekommen ist.24 Aber seine Erklärung der Unfähigkeit zum Mitleid ist tiefer angelegt als die Nussbaums und bezieht sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Privateigentum und Konkurrenz eine maßgebliche Rolle spielen. Was man Mitläufertum nenne, sei primär Geschäftsinteresse gewesen: nicht auffallen, seinen Vorteil wahren.25 Die eigentümliche Verbindung von ökonomischem Individualismus – Adorno spricht von isolierten »Monade[n]«26 – und politisch-ideologischem Kollektivismus ist charakteristisch für die moderne Welt, deren kapitalistische Produktion im Rahmen eines Nationalstaats (oder einer Gemeinschaft von Nationalstaaten) stattfindet. Man muss sich zum Beispiel fragen, ob nicht Nationalstaaten notwendig auf exkludierende Kollektivideologien nach außen wie nach innen angewiesen sind. Sie brauchen einen Feind und eine innere Schicht der Nichtdazugehörigen, weil sie die ihr Subsumierten anders nicht vereinigen können. Was man als Verfassungspatriotismus bezeichnet – auch Nussbaum hängt ihm an – könnte sich schnell als eine sympathische Illusion erweisen, eine unmögliche Distinktion. Adorno ist dieser Fragestellung nicht nachgegangen, obwohl er die Unterscheidung von ›gesundem‹ Nationalgefühl und überwertigem Nationalismus entschieden abgelehnt hat.27

      Adorno erwähnt eine besondere Form des autoritären Charakters, die er schon in den Studien zum Autoritarismus als »manipulativen Charakter« bezeichnet hatte.28 Dieser Typus ist bereit, andere als amorphe Masse zu behandeln, die es zu manipulieren gilt. Seine Kennzeichen sind Aktivismus, Emotionslosigkeit und ein überwertiger Realismus: Er wünscht sich die Welt keinen Augenblick anders als sie ist, vergöttert die Natur als Reich des Kampfes ums Überleben. Menschen mit manipulativem Charakter sind immer bereit, etwas zu organisieren, »besessen vom Willen of doing things.«29 Ihr Gott ist die Effizienz, ihr Bewusstsein ist verdinglicht. Der Begriff der Verdinglichung geht auf Marx zurück, der damit den Sachverhalt meint, dass Verhältnisse von Individuen die sachliche Gestalt eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Dingen, nämlich von Waren annehmen. Da sich, folgt man Marx, in einem Verhältnis nur die Eigenschaften der Relata betätigen können, wird auch in der СКАЧАТЬ