Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41. Hanno Plass
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41 - Hanno Plass страница 14

СКАЧАТЬ mit dem Erlebnischarakter verbundene, transzendente Dimension von Natur erschließen bzw. ›sichtbar‹ machen soll. Der Schüler Adorno interpretiert Natur emphatisch als den Geschichtsprozess übergreifende Größe, als »Gesamtheit des unbewußten Daseins schlechthin«2. Der Zugang zu dieser der sichtbaren Natur gleichsam unsichtbar eingeschriebenen Dimension eröffnet sich dem betrachtenden Subjekt im Erlebnis der Landschaft, ein Vorgang, der »auf das Ich beschränkt«3 bleibt und die Form einer »reinen Erkenntnis«4 annimmt, die sich in letzter Konsequenz jedoch begrifflicher Erfassung entzieht. Natur tritt hier an die Stelle des Göttlichen, wird zur säkularisierten Kategorie; sie setzt das Ich in Beziehung zu einer »Ganzheit«5, die von der Last, gesellschaftlich bestimmtes Subjekt sein zu müssen, befreit und damit, zumindest für einen zeitlich befristeten Moment, erlöst. Das Erlebnis der Natur, verstanden als betrachtendes Wahrnehmen von Landschaft, ermöglicht es dem Subjekt, so Adornos früheste These, die Welt »im Ich«6 zu gestalten, um auf diesem Weg einen in der Natur als ganzer, in ihrer sichtbaren wie auch unsichtbar-transzendenten Dimension enthaltenen »Sinn des Lebens«7 zu entdecken.

      Ein Jahrzehnt zuvor schon hatte Georg Simmel in seinem Essay Zur Ästhetik der Alpen8 das Landschaftserlebnis einer säkularisierten Vorstellung von Erlösung zugeordnet. Simmel deutet die Firnregion des Hochgebirges als Erlösungssymbol, dessen Wahrnehmung dem Betrachter den ›Blick‹ in die transzendente Dimension von Natur als Garant einer letzten, aller Rückbezüglichkeit auf Gesellschaftliches enthobenen Sinnperspektive eröffnet. In der Ästhetischen Theorie schließlich gelangt Adorno – auf der Folie von Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur – zu einem Naturbegriff, der das säkularisierte Erlösungsparadigma Simmels (und das des eigenen frühen Aufsatzes) gewissermaßen absorbiert und über die Kategorie des Scheins zur Konzeption eines im Vorbegrifflichen und Vorästhetischen verankerten, »weder theistisch noch reduktionistisch«9 begründeten Naturalismus führt, der das Subjekt zur letzten Instanz einer alle gesellschaftlichen Antagonismen übergreifenden, Erlösung einschließenden Form von Versöhnung macht.

      Simmel: Natur und Erlösung

      In seinem Essay Philosophie der Landschaft definiert Georg Simmel Natur als »flutende Einheit des Geschehens«, deren unsichtbar-transzendente Dimension sich dem Subjekt beim Betrachten einer Landschaft als immer von neuem sich herausbildendes »Ganzes«10 erschließt. Dieses spontane, wesentlich von »Stimmung«11 getragene Ganzheitserlebnis deutet Simmel als »Kunstwerk in statu nascendi«12; einer quasi natürlichen, im Subjekt diesem unbewusst verankerten Dynamik folgend, antizipiert es die säkularisierte Vorstellung von Erlösung als Möglichkeit der Befreiung des Ichs von den Antagonismen gesellschaftlich bestimmter Realität in einer anderen, jenseits der sichtbaren gelegenen Welt.

      Bereits zwei Jahre vorher hatte Simmel jenen Text vorgelegt, in dem die säkularisierte Erlösungsperspektive auf eine konkrete Landschaft projiziert wird.13 Im Blick auf das firnbedeckte Hochgebirge (der Alpen) erzeugt das Subjekt jenes ›Ganze‹ im Rahmen ästhetischer Wirklichkeitskonstitution und überschreitet es gleichzeitig in einen offenen Horizont hinein. Es ist dabei das »Zeitlose, dem Fluß der Dinge Entrückte«14, das beim Betrachter ein über das Stimmungselement hinausweisendes »Gefühl des Erlöstseins« in einer anderen, künstlerischer Erfassung nicht zugänglichen, »Gegenüber-vom-Leben«15 befindlichen Welt evoziert. Indem das Ich im Blick auf das Hochgebirge ein natürliches Symbol dieser transzendenten Welt erkennt, bildet sich in ihm die Vorstellung (bzw. die »Ahnung«) einer imaginären Grenze, jenseits derer das individuelle, in die Formzwänge der Gesellschaft eingebundene Leben sich »an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht, sondern über ihm und ihm gegenüber ist.«16

      Diese Erlösungskonzeption beruht auf einem romantischen, auch von Adorno im Abituriums-Aufsatz adaptierten, zweipolig konstruierten Naturbegriff. Einem materiellen, Natur als sichtbares Phänomen kennzeichnenden Pol steht dabei ein von Simmel im Begriff ›Seele‹ erfasster, transzendenter Pol gegenüber, der für jene verborgene Dimension von Natur steht, innerhalb derer Erlösung, verstanden als das Ich-Bewusstsein übersteigende, nicht näher klassifizierbare Form von ›Ganzheit‹, sich ereignet. Die Einheit beider Pole vermittelt sich dem Subjekt in einem vorästhetisch konstituierten, jenes ›Gegenüber-vom-Leben‹ symbolisch repräsentierenden Landschaftsbild, dessen Wahrnehmung die dem gesellschaftlich bestimmten Lebensprozess inhärente Dynamik für einen Moment zum Stillstand bringt und damit jene ›Ganzheit‹ als in einer anderen Welt zu verwirklichende Utopie in Aussicht stellt. Vor dem Hintergrund der epochalen, durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Sinnkrise hat Simmels Schüler Georg Lukács diese idealistisch konzipierte Vorstellung von Natur kritisiert und in ein für Adornos weiteres Denken wegweisendes Theorem umgedeutet.

      Lukács: Natur und Sinnverlust

      In der Theorie des Romans (1920) bringt Lukács die Sinnkrise seiner Zeit in einen direkten Zusammenhang mit Simmels romantischem Naturbegriff und bestreitet dabei dessen zentrale These einer im landschaftlichen Erscheinungsbild von Natur sich gleichsam offenbarenden, säkularisierten Erlösungsperspektive. Das »moderne sentimentalische Naturgefühl«, zeitgemäßer Ausdruck eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vom Bildungsbürgertum kultivierten Romantizismus, erscheint Lukács nurmehr als idealistisch verbrämte »Projektion des Erlebnisses, daß die selbstgeschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr ist, sondern ein Kerker«17. Die für Simmel zentrale Bedeutung der transzendenten Dimension im subjektiven Natur- bzw. Landschaftserlebnis kann nach der fundamentalen Erschütterung der bürgerlichen Welt durch den Ersten Weltkrieg keinen unmittelbar wirksamen, »das Trostbringende für das reine Gefühl«18 mehr gewährleistenden Sinnzusammenhang hervorbringen. Auch die Kunst, der Simmel immerhin noch eine begrenzt sinnstiftende »Beziehung zwischen Seele und Natur«19 herzustellen zutraute, entbehrt nun, nach Lukács, jeder »sinnerfüllten Symbolik« (und dementsprechend auch jeder Erlösungsqualität), da sie die »Urschrift« einer ersten Natur, die »stumm, sinnfällig und sinnesfremd«20 der gesellschaftlichen Realität gegenübersteht, nicht mehr zu entziffern vermag. Was sich demgegenüber in Simmels Wahrnehmungsperspektive zeigt, ist durchgängig zweite Natur: durch ästhetische Wirklichkeitskonstitution in Schein verwandelter Ausdruck »vermoderter Innerlichkeiten«21. Die im historischen Prozess unkenntlich gewordene Spur einer ersten Natur löst sich demnach im Landschaftserlebnis unmittelbar »in Stimmung auf« – für Lukács Symptom der »Unmöglichkeit, für das konstitutive Subjekt ein angemessenes konstitutives Objekt«22 finden zu können.

      Erlösung, verstanden als im Innenraum des Subjekts sich ereignender, Seele (Simmel) und Natur in ganzheitlichen Einklang bringender Vorgang, ist für Lukács somit undenkbar geworden. Die (bürgerliche) Kunst ist nicht mehr in der Lage, dem Subjekt einen sinnhaften Bezug zu dem vermitteln zu können, was im Sinne Simmels als Natur noch zu bezeichnen wäre.23 Angesichts dieses Befundes bleibt nicht einmal die Hoffnung, dass ein transzendenter Restbestand an erster Natur sich denjenigen offenbaren könnte, die es auf sich nehmen, die schwache Spur jener ›Urschrift‹ noch verfolgen zu wollen.24

      Adorno I: Naturgeschichte und Schein

      In seinem Essay Die Idee der Naturgeschichte nimmt Adorno 1932 diese Spur auf und greift dabei auf Lukács’ Kritik am Naturbegriff Simmels zurück in der Absicht, die von Lukács geforderte Aufrechterhaltung einer für den gesellschaftskritischen Diskurs elementaren »Antithesis von Natur und Geschichte«25 in Frage zu stellen und damit dessen Versuch der Etablierung eines auch für die Kunst zukünftig maßgeblichen, einpolig materialistisch definierten Naturbegriffs entgegenzuwirken. Um sein Konzept der Naturgeschichte im Sinne einer »Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur«26 begründen zu können, übernimmt Adorno Lukács’ Theorem von erster und zweiter Natur, um es soweit zu modifizieren, dass die Spur der von Lukács neutralisierten transzendenten Dimension des Simmel’schen Naturbegriffs fast unmerklich wieder erkennbar wird. Alles im Prozess der Geschichte Erzeugte und Entstandene ist demnach zweite Natur, deren Eigenart darin besteht, real und scheinhaft zugleich zu sein. Im Schein verortet Adorno jetzt auch jene von Lukács als verschollen vermutete ›Urschrift‹, deren Lesbarkeit СКАЧАТЬ