Der fette Blinde. Jürgen Dümchen
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Название: Der fette Blinde

Автор: Jürgen Dümchen

Издательство: Автор

Жанр: Публицистика: прочее

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isbn: 9783961456574

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СКАЧАТЬ der Rückfahrt hielt sie ihre Puppe ein wenig in die Höhe, als wollte sie es ihr ermöglichen, mehr von der Landschaft wahrzunehmen.

      Es gab kaum Verkehr auf der Bundesstraße, und so hatte der Ortsvorsteher von Mahlow viel Zeit, ihr schmales Gesicht noch ausführlicher im Spiegel zu betrachten, bemerkte erst jetzt eine geringe Fehlstellung der oberen Schneidezähne, die gut zu erkennen war, da sie ihren Mund jetzt leicht geöffnet hielt, als wollte sie ihm flüsternd etwas mitteilen. Ihre weichen Lippen wirkten auf ihn, als seien sie mit einem Lippenstift diskret nachgezogen worden.

      Eine von Linden fast völlig überdachte Allee, ihr Gesicht im Spiegel verbunden mit dem warmen Licht der Abendsonne weckte eine Ahnung des Vollkommenen im Ortsvorsteher.

      In den nächsten Tagen ging es weiter nach Branitz, dann nach Rheinsberg, auch ein Besuch in Chorin und Kloster Lehnin folgte – wo immer möglich über kleinere Straßen.

      Ihr wehendes Haar im Wind, die Bewegung ihrer Hand zur Haarspange, die damit verbundene Neigung ihres Kopfes – nur darum ging es.

      Das Antidepressivum hatte er abgesetzt, sein Schlaf war trotzdem gut und tief, aber traumlos, was er seltsam fand, da er früher jemand gewesen war, der jede Nacht viel geträumt hatte.

      „Früher“ – das beschrieb die Zeit vor ihrer Ankunft. Er bezweifelte, dass es diese Zeit überhaupt einmal gegeben hatte.

      Tagsüber hatte er vermehrt Wahrnehmungen, die durch den Wind – oder auch nur durch einen Windhauch ausgelöst wurden: Es waren Erinnerungen, die stets ein angenehmes Gefühl bei ihm auslösten, eindeutig auf ein Ereignis der Vergangenheit verwiesen, dieses aber in keiner Weise näher benannten. Er kannte diese Zustände seit langem, aber jetzt ängstigten sie ihn nicht mehr.

      Auf dem Amt hatte er sich nicht mehr gemeldet, Telefonanrufe nicht beantwortet. Es gab auch nur wenige Nachfragen seine Abwesenheit betreffend, und diese waren formell – er möge doch seine „Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ zeitnah einreichen – hatte die Personalstelle mitteilen lassen.

      Einen Anruf seines Sohnes nahm er doch entgegen. Dieser berichtete ihm stolz von Fortschritten in seiner Doktorarbeit in Biologie – soweit der Ortsvorsteher verstanden hatte, ging es dabei um die Entwicklung der Jungtiere von sogenannten Arthropoden. Er hatte seinen Sohn immer geliebt.

      Am Wochenende führte die Ausfahrt nach Bansin auf Usedom, der Ortsvorsteher von Mahlow liebte das Meer, abwechselnd erregte und beruhigte es ihn.

      Auch sie war aufgeregt, als sie das Meer sah, zitterte am ganzen Körper, drückte die Puppe noch fester an sich, weinte still. Sie hatte sich auch noch nicht beruhigt, als sie auf der Rückfahrt – es war bereits spätabends, für Anfang Juni war es sehr kalt und es regnete – in einen langen Stau kamen, der Ortsvorsteher schaltete vorschriftsmäßig die Warnblinkanlage ein, als das Mädchen tastend den Türgriff suchte, dabei weiter leise weinend. Er wandte sich zu ihr um, soweit dies in der Enge des Wagens möglich war, streckte seinen Arm aus, berührte mit seiner Hand ihre Schulter und sagte:

Der Ortsvorsteher von MahlowWarum weint Ihr? (Das Mädchen zittert, steht auf und will fliehen)
Der Ortsvorsteher von MahlowHabt keine Angst, Ihr habt nichts zu befürchten. Warum weint Ihr hier, ganz alleine?
Das Mädchen(fast ohne Stimme) Berührt mich nicht! Berührt mich nicht!
Der Ortsvorsteher von MahlowHabt keine Angst … Ich werde nicht … Oh! Ihr seid wunderschön!
Das MädchenBerührt mich nicht! Berührt mich nicht, oder ich stürze mich ins Wasser!
Der Ortsvorsteher von MahlowIch berühre Euch nicht … (sanft und ruhig) Seht, ich bleibe hier, Habt keine Angst. Hat Euch jemand etwas Böses getan?
Das MädchenOh! Ja! Ja! Ja! (Sie schluchzt tief)
Der Ortsvorsteher von MahlowWer hat Euch etwas Böses getan?
Das MädchenAlle! Alle!
Der Ortsvorsteher von MahlowWas hat man Euch Böses getan?
Das MädchenIch will es nicht sagen! Ich kann es nicht sagen
Der Ortsvorsteher von MahlowKommt schon, weint nicht so. Woher seid Ihr?
Das MädchenIch bin geflohen! geflohen … geflohen …
Der Ortsvorsteher von MahlowJa, aber wovor seid Ihr geflohen?
Das MädchenIch bin verloren! verloren! Ich bin nicht von hier … Ich bin dort nicht geboren …
Der Ortsvorsteher von MahlowOh! oh! hier verloren … Woher kommt Ihr? Wo wurdet Ihr geboren?
Das MädchenOh! Oh! Weit von hier … weit … weit …
Der Ortsvorsteher von MahlowIst es lange her, dass Ihr geflohen seid?
Das MädchenJa, ja, Oh! Ihr habt schon graue Haare!
Der Ortsvorsteher von MahlowJa; einige, hier, in der Nähe der Schläfen …
Das MädchenUnd der Bart auch … Warum seht Ihr mich so an?
Der Ortsvorsteher von MahlowIch sehe Eure Augen an. Schließt Ihr nie die Augen?
Das MädchenWenn, wenn ich sie nachts schließe …
Der Ortsvorsteher von MahlowWarum scheint Ihr so erstaunt?
Das MädchenIhr seid ein Riese!
Der Ortsvorsteher von MahlowIch bin ein Mann wie alle anderen …
Das MädchenWarum seid Ihr hierher gekommen?
Der Ortsvorsteher von MahlowIch weiß es nicht. Ihr scheint sehr jung zu sein. Wie alt seid Ihr?
Das MädchenIch beginne zu frieren …
Der Ortsvorsteher von MahlowWollt Ihr mich begleiten?
Das MädchenNein, nein, ich bleibe hier.
Der Ortsvorsteher von MahlowIhr könnt hier nicht alleine bleiben, Ihr könnt nicht die ganze Nacht hier bleiben … Wie nennt Ihr Euch selbst?
Das MädchenMélisande.
Der Ortsvorsteher von MahlowIhr könnt hier nicht bleiben, Mélisande. Geht mit mir …
Das MädchenIch bleibe hier!
Der Ortsvorsteher von MahlowIhr werdet Angst bekommen, so ganz allein. Man weiß nicht, was hier geschieht …, (mit großer Behutsamkeit) Melisande, kommt, gebt mir Eure Hand …
Das Mädchendie ganze Nacht …, ganz allein …, das ist nicht möglich, Oh! berührt mich nicht!
Der Ortsvorsteher von MahlowRegt Euch nicht auf … Ich werde Euch nicht mehr berühren. Aber kommt mit mir. Die Nacht wird sehr feucht und sehr kalt. Komm mit mir …
Das MädchenWohin geht Ihr?
Der Ortsvorsteher von MahlowIch weiß es nicht … Ich bin auch verloren …1

      In diesem Moment beendete der Fahrer eines mit Stahlträgern beladenen Sattelschleppers aus Swiecki, in älteren Zeiten auch Schwetz genannt, einer kleinen Stadt an der Weichsel in der polnischen Woiwodschaft Kujawien-Pommern, seinen Sekundenschlaf, versuchte noch mit einer Vollbremsung sein Fahrzeug maximal zu verzögern, scheiterte hier aber, wurde von einem der insgesamt nur laienhaftunzureichend gesicherten Stahlträger durchbohrt und verstarb trotz der intensivmedizinischen Notfallbehandlung etwa eine Stunde nach Eintreffen der Rettungskräfte noch an der Unfallstelle. Er hinterließ eine junge Frau, die eben ihre Ausbildung zur Krankenschwester wieder aufgenommen hatte, und drei Kinder – einen Sohn, Adam, 1 1/2 Jahre alt und ein Zwillingspaar, Agnieszka und Aleksandra, sechs Jahre alt.

      Der Ortsvorsteher von Mahlow sei sofort tot gewesen, so jedenfalls sagte es der Notarzt. Die Beine des Ortsvorstehers waren durch den Aufprall des 38 Tonnen schweren Lastwagens unterhalb des Rumpfes vollständig abgetrennt worden.

      Die Sachen, die man aus dem fast völlig zerstörten Auto des Ortsvorstehers noch retten konnte, wurden wenige Tage später seinem Sohn übergeben, darunter befand sich eine Stoffpuppe.

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