Название: Die Geburt der Eidechse
Автор: Werner Posselt
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783960085126
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Sie weiß jetzt manches besser als vorher. Der Tod der Hanne Clarsen hat sie aufgerüttelt. Bei ihr saß sie oft, wenn sie Nachtdienst hatte. Man hat sich geduzt, was eigentlich nicht sein sollte. Und manchmal haben sie länger erzählt, bis der Pieper Iris alarmierte und in ein anderes Zimmer rief.
Die Hanne hatte viele Gebrechen und war auf jede Hilfe angewiesen. Im Kopf aber war sie noch klar. War das nun gut oder eher von Nachteil? Genau wussten es beide nicht, Iris, die Pflegerin, und Hanne, die Pflegeperson.
Hannes Motto war es schon immer, aus jeder Situation das Beste zu machen. Sie las viel und sprach gern über das Gelesene. Früher fuhr sie auf einem Luxusliner als Köchin. Verheiratet war sie nie und Kinder hatte sie auch keine. Eine Schwester hatte sie, doch die war vor vier Jahren verstorben.
Hanne hatte letztes Weihnachten Iris ihr handgeschriebenes Kochbuch geschenkt, mit vielen goldenen Tipps aus ihrem Erfahrungsschatz. Iris wird es wie einen Schatz bewahren. Von Hanne ist etwas geblieben.
Durch ihre Gespräche hat Iris begriffen, was in den Menschen hier vorgeht. Zwar hatte sie sich schon vorher gut auf diesen Beruf vorbereitet und in den gerontologischen Seminaren eine Menge gelernt, doch das war mehr oder weniger eigentlich nur die Theorie. Fachschulwissen halt.
Letzte Nacht ist Hanne eingeschlafen, für immer, einfach so. Und Iris war nicht dabei. Sie hatte diesmal Tagesschicht.
Alle, die Hanne kannten, haben von Herzen geheult, bei ihr sind die Tränen ausgeblieben, wollten nicht kommen. Darüber war sie selbst erstaunt und konnte es so recht nicht fassen, denn Hanne war ihr doch eine gute Freundin geworden.
Heute ist der Tag so, als ginge sie neben sich her. So, wie man im Traum geht. Dann endlich ist Dienstschluss und Stefan holt sie mit dem Auto ab. Das macht er manchmal, so wie es sein Job gestattet.
Und da stehen sie wieder am Fenster, die Alten. Das war ihr immer so unangenehm, wenn sie herabschauten und sie beobachteten, besonders wenn Stefan sie zur Begrüßung küsste. Heute aber ist es anders. Sie lässt sich lange küssen und winkt hinter Stefans Rücken den Leuten zu. Heute ist etwas so ganz anders geworden in ihr, das spürt sie.
Plötzlich, als sie im Auto sitzen und abfahren, öffnen sich ihre Schleusen und die Tränen stürzen nur so heraus. Stefan steuert den Wagen und sagt gar nichts. Er kennt sie. Er muss sie jetzt lassen, diese kleine Frau. Erst nach dem Aussteigen nimmt er sie in den Arm und streicht ihr sanft übers Haar.
Mein Wiesengarten
Kein echtes Geviert, eher ein Parallelogramm, ein ungefähres. In diesem ungleichmäßigen Viereck der Garten. Ein Traumgarten! Wiese oder Garten? Eine Wiese mit lauter alten Obstbäumen, nur Äpfel, aber verschiedene Sorten. Sehr alte Sorten. So nenne ich diese Anlage einfach Wiesengarten, meinen Wiesengarten, denn so hat er sich seit ewigen Zeiten bei mir eingeprägt, obwohl er mir weder gehörte noch je gehören wird.
Jeder kennt Orte, die ihm so besonders erscheinen, weil sie eine ganz bestimmte Aura haben, die befremdet oder anzieht. Dieser Garten zog mich immer an.
Besagtes Grundstück existierte schon lange vor meiner Zeit, denn es gehörte einst zum Besitz der uralten Wassermühle. Diese war allerdings schon vor dem Krieg außer Betrieb. Nein, nie sah ich jemanden darin wirtschaften, nicht in der Mühle und auch nicht im Garten.
Das Gras wuchs, die Äpfel reiften und im Frühling jubilierten die Vögel, doch wurde weder das Gras gemäht noch wurden die Äpfel gepflückt. Der Garten war einfach da, präsentierte sich der jeweiligen Jahreszeit entsprechend, wirkte verträumt und verwunschen. Als Kinder drangen wir manchmal ein, um Kornäpfel zu stehlen, und immer hatten wir dabei das schlechteste Gewissen, fühlten uns beobachtet und fürchteten, erwischt zu werden. Dies geschah aber nie.
Der Wiesengarten hat etwa die Größe zweier Fußballfelder. Einerseits ist er begrenzt durch die alten Stallungen der ehemaligen Wassermühle, linksseitig durch den Stadtpark mittels einer verwilderten Weißdornhecke, rechtsseitig durch einen ziemlich breiten Bach mit hohen Ufern und schließlich ist da noch die stark befahrene Hauptverkehrsstraße, die an dieser Stelle in ihrer Verlängerung zur Chaussee wird und nach H. führt.
Zu dieser Straße war der Garten früher durch einen Drahtzaun begrenzt, der im Laufe der Zeit längst verrostet ist und überflüssig wurde, weil sich an seiner Stelle eine sehr breite natürliche Hecke von selbst angesiedelt hat. Diese ist ebenso undurchdringlich wie die im Märchen vom Dornröschen. Und vor dieser Märchenhecke gibt es, vermutlich als Überbleibsel des Straßenausbaus, einen Erdwall, der sich mutig dem Verkehrslärm entgegenstellt. So wirkt dieser Fleck jetzt wie ein Ort ewigen Friedens, ein Ort, an dem sich Träume gut verbergen können.
Also, diesen Wiesengarten gab es früher schon und zu meinem Erstaunen und zu meiner großen Verwunderung gibt es ihn noch immer. Wäre nicht in den Baumreihen da und dort eine Lücke und wäre nicht, was besonders im Sommer sichtbar wird, der wilde Verwuchs in den Kronen, dann könnte man glauben, fast nichts habe sich über die Jahre verändert. Es ist ein geheimnisvoller Ort geblieben. Doch wo liegt für mich sein eigentliches Geheimnis?
Liegt es vielleicht darin, dass er stets meine Fantasie anregte? Wenn uns Pfarrer Reichwein im Religionsunterricht vom Paradies erzählte, so, als wäre er geradewegs von dorther zurückgekehrt, stellte ich mir stets diesen Garten vor, allerdings noch besiedelt mit tausend verschiedenen Tieren, die sich alle auf wundersame Weise vertrugen. Neben Vögeln und Schmetterlingen sah ich in Wirklichkeit hier nur einmal eine Katze, einen Hasen und einen Rotfuchs. Oder, wenn uns in der Schule am letzten Tag vor den Ferien Märchen vorgelesen wurden, dann wanderten meine Gedanken und Träume hierher und sie trafen das Dornröschen, das Tischleindeckdich, die Goldmarie und auch die Regentrude.
Gärten gab es in dieser Stadt schon immer viele, Kleingärten und Schrebergärten, in denen die Leute, meist Arbeiter und Angestellte, die ihren schweren Dienst in Bitterfeld oder Wolfen verrichteten, nach Feierabend ihren Ausgleich suchten. Mit Liebe, Enthusiasmus und spießerischer Eitelkeit wurden die Parzellen gepflegt, damals wie heute. Lauben, ja ganze Wohnhäuser wurden rechtlich oder widerrechtlich hineingebaut. Für mich blieb diese Art von Gärten reizlos, manchmal in ihrer verkitschten und zwanghaften Ordnung fremd und abstoßend.
Das Areal hinter der alten Wassermühle war mein Gartenideal und ist es bis heute geblieben. Manchmal denke ich darüber nach, welche unterschiedlichen Zeiten und Szenen der Wiesengarten mit Gleichmut überstanden hat: Da waren die Aufmärsche in der Nazizeit mit Fanfaren und Siegheil-Getöse, der Artilleriebeschuss auf die in der Nähe befindliche Zuckerfabrik, dann der Einmarsch der alliierten Befreier, die auf der Chaussee vorrückten, dann die FDJ mit ihren Trommeln und Trompeten, die neue Zeit verkündend, Maidemonstrationen und Fronleichnamsumzüge, wachsender Straßenverkehr und vieles andere mehr. Alles ging an diesem Garten vorüber, von Hecke und Erdwall geschützt, und nun auch noch die ganz neue Zeit. Was wird sie bringen?
Ein wenig bange ich in meinem Restleben um die Existenz dieses Stückchens paradiesischer Erde. Ist nicht alles einer skrupellosen Käuflichkeit unterworfen? Und doch habe ich die Hoffnung, dass dieser Flecken durch seine ganz besondere Lage für fast jede kommerzielle Nutzung ungeeignet erscheint. Vorerst. Die Chance ist real. Und so kann ich mich hoffentlich noch eine Weile an seiner nur ihm eigenen Aura erfreuen.
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