Название: Skandal um Zille
Автор: Horst Bosetzky
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783955522025
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Konrad Kowollek gingen die Worte des Chefredakteurs Reinhard Rummler nicht aus dem Kopf: »Das ist eine heiße Kiste, Kowollek, bleiben Sie an dieser Geschichte unbedingt dran! Wenn Sie Ihren Verdacht belegen können, kommen wir damit groß heraus. Überschrift: Skandal um Zille! Aber Indizien reichen mir nicht, Kowollek, ich brauche Beweise.«
Sein Freund Karl-Heinz, zumeist Heiner gerufen und Photograph beim Berliner Boulevard Blatt, konnte nur den Kopf schütteln, als er das hörte. »Da sagst du einen Grand mit Vieren an – und hast keinen einzigen Buben in der Hand.«
»Den beschaffe ich mir noch!«, rief Kowollek. »Die Sache ist kein Skatspiel. Aber selbst dabei findet man manchmal noch zwei Buben auf dem Tisch, wenn man sich scheinbar überreizt hat.«
»Wie kommst du eigentlich auf den Skandal um Zille?«, wollte Heiner wissen.
»Durch Intuition wie durch Konklusion.«
»Was Intuition ist, weiß ich, aber Konklusion habe ich noch nie gehört«, ließ der Freund verlauten.
Kowollek erklärte es ihm. »Das Wort ist vom lateinischen Substantiv conclusio abgeleitet und bedeutet Schlussfolgerung. Der Begriff stammt aus der Philosophie. Im Allgemeinen gilt etwas als konkludent, wenn es als Schlussfolgerung offenkundig wird, ohne daß es einer weiteren ausdrücklichen Erklärung bedarf.«
Heiner machte eine abwehrende Handbewegung. »Das ist zu hoch für mich! Aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist Rummler mit deinen … deinen so zwingenden logischen Ausführungen nicht ganz zufrieden und will Beweise. Liebermann und Frey müssen also zugeben, dass sie für Zille Bilder gemalt und Texte geschrieben haben. Oder du musst ihre gefälschten Werke ausfindig machen. Du solltest auch Photos von Zilles Doppelgängern auftreiben.«
»So ist es«, musste sich Kowollek eingestehen. »Darum sollst du mich auch begleiten und meine Nachforschungen photographisch festhalten.«
»Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dass Zille andere für sich arbeiten lässt?«, hakte Heiner nach.
»Wie schon gesagt, durch Konklusion. Überall steht doch, dass der Mann nur noch ein Wrack ist und von zahlreichen Krankheiten heimgesucht wird. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was der sich alles hinter die Binde gegossen hat … Es soll schon in Trunksucht übergegangen sein. Und seit seine Frau im Sommer 1919 gestorben ist, haust er allein in seiner Höhle am Bahnhof Westend, vier Treppen hoch, wobei seine kranken Beine kaum noch zulassen, dass er wieder nach oben kommt, wenn er es überhaupt mal nach unten geschafft hat. Steht überall in den Zeitungen. Wie soll er unter diesen Umständen bei den Zille-Bällen leibhaftig erscheinen, wo sie doch keinen Fahrstuhl im Haus haben?«
Der Freund war beeindruckt von diesen Argumenten. »Du hast recht, das klingt wirklich überzeugend.«
»Wenn ich diesen Skandal an die Öffentlichkeit bringe, Heiner, bin ich ein gemachter Mann. Dann habe ich endlich Geld in der Tasche und Aussicht auf eine feste Stelle als Reporter oder Redakteur. Dafür muss ich alles versuchen.«
Karl-Heinz nickte. »Womit du abermals recht hast. Und Zille ist doch dafür bekannt, dass er armen Teufeln wie dir gerne hilfreich unter die Arme greift.«
»Sei nicht so gemein!«
In den nächsten Tagen streifte Kowollek vom frühen Vormittag bis zum späten Nachmittag durch Berlin, immer in der Hoffnung, Zilles Doppelgänger zu treffen und zu entlarven. Das schien ihm die leichteste Methode zu sein, Rummler den nötigen Beweis für seinen Verdacht zu liefern.
Am 4. Februar schien er endlich Glück zu haben. Er ging die Friedrichstraße Richtung Norden entlang und hatte vor, am Oranienburger Tor in die Linienstraße einzubiegen und bis zum Rosenthaler Platz zu laufen – von den Berlinern gern Blasenthaler Rotz genannt, da in dieser Gegend viel von Zilles »Milljöh« zu finden war. Karl-Heinz lief einen Meter hinter ihm.
Auf der Weidendammer Brücke blieb Kowollek stehen und sah auf das trübe Wasser der Spree hinunter. Er hatte in den letzten Tagen alle Zeitschriften und Bücher durchgeblättert, in denen sich Zilles Zeichnungen finden ließen, und nun stand ihm diejenige vor Augen, die er für die beste hielt: Ins Wasser aus dem Band Kinder der Straße. Eine Mutter will mit ihrem Kind zusammen Selbstmord begehen, die Kleine fragt ängstlich: »Mutter, is’s ooch nich kalt?«, und die Mutter antwortet: »Sei ruhig, die Fische leben immer drin!«
Ins Wasser »Mutter, is’s ooch nich kalt?« – »Sei ruhig – die Fische leben immer drin.«
»Willste hier baden?«, fragte Karl-Heinz.
»Nein, gehen wir weiter!«
Nach ein paar hundert Metern kamen sie an einem der merkwürdigsten Gebäude Berlins vorbei, dem Großen Schauspielhaus, wie es jetzt genannt wurde. Kowollek hatte erst neulich etwas darüber geschrieben. Ursprünglich war es von 1865 bis 1867 als erste Berliner Markthalle nach Plänen des berühmten Oberbaurats Friedrich Hitzig gebaut worden. Niemand aber wollte in dieser Halle so recht kaufen, und sie ging bankrott. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 nutzte die preußische Heeresleitung das Gebäude als Nachschubarsenal. Von 1873 bis 1897 fanden in dem Bau Zirkusvorführungen statt, unter anderem die von Ernst Renz und seinem Sohn. Es folgte – wenn auch abermals ohne positive Bilanz – eine Zeit als Revuetheater, bis es Albert Schumann erneut mit einem Zirkus versuchte. Nach Ende des Großen Krieges war dann Max Reinhardt auf den Plan getreten, hatte das Haus von Hans Poelzig zum Großen Schauspielhaus umgestalten lassen – zur »Tropfsteinhöhle«, wie die Berliner lästerten – und Aischylos auf die Bühne gebracht. Aber auch das war nicht lange gutgegangen, und nun präsentierten Erik Charell und andere hier ihre Revuen.
Kowollek überlegte, ob man aus der Geschichte des Gebäudes nicht ein Buch machen könnte. So war er ein wenig abwesend, als sie am Oranienburger Tor ankamen.
»Nanu, wat is denn hier los?«, hörte er den Photographen hinter sich rufen.
Sie sahen einen Menschenauflauf. Kowollek drängte sich durch die Menge. Als Reporter hatte er das Recht, alle zur Seite zu stoßen. Dann stand Heinrich Zille vor ihm. Oder war das einer der Doppelgänger, nach denen er so lange gesucht hatte? Der Mann hielt einen Skizzenblock in der Hand, auf dem Kowollek einen gezeichneten Lumpensammler erkannte. Jetzt hob er eine Sammelbüchse vom Boden auf und schüttelte sie lautstark.
»Spenden Sie für das Waisenhaus in der Ackerstraße!«
In diesem Augenblick sprang ein Kerl auf Zille zu und riss ihm die Sammelbüchse aus der Hand. Kowollek war nun weniger an diesem Räuber interessiert als an Heinrich Zille – oder wer immer es war. Der Mann mit dem Skizzenblock wirkte nicht zerbrechlich, sondern war ein kräftiger Siebzigjähriger. Kowollek wollte ihn packen und zur nächsten Polizeiwache schleppen, doch in dem allgemeinen Durcheinander, das entstanden war, stieß jemand Kowollek zu Boden, und dann trat ihm auch noch jemand so heftig in die Nieren, dass er kurzzeitig das Bewusstsein verlor.
Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war der offensichtlich falsche Zille längst verschwunden. Dennoch – und trotz seiner Schmerzen – hätte Kowollek jubeln können. Er war auf der richtigen Spur!
Johannes Banofsky hatte zwar Heinrich Zille noch nicht persönlich sprechen können, СКАЧАТЬ