Название: Ring der Narren
Автор: Chris Inken Soppa
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783937881850
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„Das sind die einzigen Damenschuhe in Ihrer Größe, die ich habe.“
Es waren keine Stilettopumps, sondern Sandalen. Immerhin hatten sie Absätze, halbhoch, gewichtig, konkav, mit gewaltiger Trittfläche. Mit denen brauchte sich Milton keine Sorgen zu machen, sie könnten abbrechen.
„Man kann ganz gut darauf stehen.“ Die Frau wies auf einen roten würfelförmigen Hocker, neben dem ein langer silberner Schuhlöffel lag. „Probieren Sie mal!“
In einem Anflug von Scham setzte sich Milton, zog seine schwarzen, unansehnlichen Mokassins aus und schob sie zur Seite. Die Frau hielt ihren Umhang unter dem Kinn zusammen, als fröre sie. Milton überlegte, ob er seine grauen Socken ebenfalls ausziehen sollte, doch in Gegenwart dieser Frau kam ihm der Gedanke demütigend vor.
„Ich hätte nie vermutet, dass Sie so etwas brauchen.“ Sie reichte ihm den linken Schuh. Milton behielt ihn in der Hand. Trotz der Klobigkeit der Absätze wirkte der Schuh zart, die Riemchen waren winzig. Eine silberne Schnalle verschwand zwischen seinen Fingerspitzen. Das helle Leder der Innensohle zeigte einen klaren dunklen Fußabdruck. Die frühere Besitzerin des Schuhs musste einen hohen Spann gehabt haben, bei Größe 46.
Die Frau mit dem glitzernden Cape irritierte ihn. Das Neonlicht brach sich nicht nur in den Pailletten ihres Umhangs, sondern auch in ihren leuchtenden roten Haaren. Benommen brachte Milton heraus: „Bei meinen Knick-Senkfüßen brauche ich hohe Absätze. Sonst ermüdet der Knorpel, und sie werden noch platter.“
Deutlich amüsiert betrachtete die Frau seine Socken, die viel zu groß und formlos waren. Elefantenfüße.
„Bei Sohlengängern ein häufiges Leiden“, stimmte sie zu. „Denken Sie nur an die jungen Leute in ihren Badeschlappen. Sie schlurfen mit müden Ballen, X-Beinen und weichen Waden wie Altersheimer. Die Eltern achten gar nicht mehr darauf.“
Inzwischen hatte Milton es fertigbekommen, beide Riemchen über seine Socken zu ziehen, ohne die zierlichen Schnallen zu öffnen. Seine Vorgängerin musste ein Walross gewesen sein.
Als er stand, schwankte er erst ein bisschen. Von seiner zugewonnenen Höhe herab schaute er auf den flammenden Schopf der Frau und entdeckte darin ein paar tröstliche graue Haare. Kippelig oder nicht, die neue Perspektive machte ihm Spaß, und er begann zu ahnen, was der Sinn hochhackiger Schuhe sein mochte. Man konnte über seine eigene Größe hinauswachsen und dabei Neues entdecken. Die Vertiefung zwischen den Schlüsselbeinen dieser Frau, dunkel und geräumig genug, um Regenwasser darin aufzufangen. Lange dunkle Wimpern, die in der Mitte spitz zuliefen.
„Na.“ Die Frau machte einen Schritt von ihm weg. „Ich möchte Sie doch bitten, auf Ihr Gleichgewicht zu achten.“
Milton sah an sich herunter. Seine Füße waren unförmige graue Säcke, eingeschnürt von Riemchen. Unsicher trat er zur Seite.
„Sie waren nie beim Zirkus, nicht wahr?“, fragte die Frau.
„Nein. Doch. Als Kind. Als begeisterter Zuschauer“, erwiderte Milton. „Allerdings bin ich nie zur Marschmusik im Kreis gelaufen, mit einem bunten Sonnenschirm im Rüssel, um mich dann tuschgenau auf ein riesiges rotes Samtkissen zu setzen.“
Irritiert flatterten die spitzen Wimpern in seine Richtung, dann lachte die Frau leise auf, als habe sie ein kniffeliges Rätsel endlich lösen können. „Die Schuhe sind okay. Für fünf Euro können Sie sie mitnehmen.“
„Vielen Dank.“
Sie ging ihm voraus zur Kasse. „Aber Sie sollten sie ohne Socken tragen.“
Welche spitzwinkligen Gefühle und Gedanken die Wesen auf der anderen Seite des Geschlechtergrabens antrieben, konnte Milton nur erahnen. Selbst seine Schwester entpuppte sich immer wieder als Mysterium. Als Feministin stolperte sie einst in ihr junges Erwachsenenleben, stilecht mit selbstgefärbten Batiklatzhosen, omnipräsentem Strickzeug und einer grandiosen Verachtung für alle Männer, die ihre Intelligenz nicht auf Anhieb begeistert akzeptierten. Über gedankenlos chauvinistische Sprachbatzen in der Lokalpresse konnte sie sich wortreich ereifern. Ein fehlendes Innen schwoll zur großen Katastrophe. Ständig hielt sie Ausschau nach neuen gesellschaftlichen Anzeichen der Unterdrückung. In ihrer radikalen Zeit war Miriam Meier eine stirnrunzelnde, laute Frau, die Pamphlete verteilte und krawattentragende Männer gern mit heißem Kaffee übergoss.
Auf der Suche nach unterdrückten Mitstreitern für die Freiheit fand sie einen Freund. Muhammad Fallas, ein algerischer Muslim aus der Pariser Vorstadt. Maschinenbaustudent. Hungrige braune Augen, schwarze Drahthaare und ausgemergelte Gliedmaßen. Trotz seines für deutsche Ohren so melancholisch klingenden Akzentes und seines französischen Passes war er im tiefsten Inneren wütend. Wütend auf sein Leben, seine Herkunft als underdog eines reichen Volkes, das ihm zwar seine Nationalität verlieh, ihn aber gleichzeitig achselzuckend aus dem gesellschaftlichen Leben aussperrte. Wütend auf sich selbst. Miriam erkannte diese Wut, teilte sie und fachte sie weiter an. Sie hatte eine neue Welt für sich entdeckt und griff mit beiden Händen zu. Nach und nach fand sie zu einer erstaunlichen Reihe freiwilliger Entsagungen, obgleich das Wort „Verzicht“ für sie immer einen reaktionären Beiklang aus dumpfen Vergangenheiten besaß. Auf einmal mochte sie kein Schweinefleisch mehr, rasierte sich die Achselhöhlen, und die Freiheit ihrer Gedanken schien ihr nicht mehr so wichtig. Das wunderte Milton. Seine Schwester war eine robuste Atheistin gewesen, immun gegen Fundamentalisten, Gurus und Treppenhausprediger, die mit blumigen Reden vorgaben, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein. Sie hielt Gläubige für einsame, ichbezogene Typen, die einen himmlischen Beobachter brauchten, weil sie kein anderes Publikum hatten. Von einem eifersüchtigen Gott könne man Rückschlüsse auf die Menschen ziehen, die sich ihn ausgedacht hätten, lästerte Miriam. Ihr plötzlicher Ernst war Milton neu.
„Das verletzt seine religiösen Gefühle“, sagte Miriam, als Milton ihr die Satanischen Verse zum Geburtstag schenken wollte. Sie bat ihn, das Buch umzutauschen.
„Du kannst es ja lesen, wenn er nicht dabei ist“, hatte Milton vorgeschlagen.
„Das wäre Verrat“, entgegnete sie. „Ich möchte ehrlich zu ihm sein. Schließlich liebe ich ihn.“
Miriams Liste der Entsagungen war noch um einige Punkte länger, doch sie zerbröckelte just an dem Tag, an dem Miriam Muhammad Fallas’ Reisepass entdeckte. Ihr algerischer Freund hieß in Wirklichkeit Louis LaFaloise und war irgendwo bei Fontainebleau beheimatet. Weiteres energisches Nachfragen ergab: Muhammad Fallas/Louis LaFaloise hatte an der Pariser Ecole Normale Supérieure das Staatsexamen abgelegt, seine Familie war streng katholisch, wohlhabend elitär, mit eigenem Landhaus und Chauffeur, und berief sich außerdem darauf, in direkter Linie vom letzten französischen Kaiser Napoleon dem Dritten abzustammen. Kurz entschlossen flutete Miriam das gemeinsame Badezimmer, in dem der falsche Muhammad gerade mit seiner Bartpflege beschäftigt war. Sie stellte sich auf den Toilettendeckel und drohte, den eingeschalteten Fön in die steigende Pfütze zwischen seinen Füßen zu werfen. Dann klingelten Nachbarn, bei denen es durch die Decke tropfte. Muhammad flüchtete mit einem spärlich rasierten Gesicht, schnappte sich Brieftasche, Gebetsteppich, Miriams Autoschlüssel und ward nicht mehr gesehen. Ihr Volkswagen Jetta wurde ein paar Tage später in zerbeultem Zustand von der Polizei zurück gebracht, während Miriam selbst mit Napoleons Ur-Ur-Ur-Enkelin Eugénie LaFaloise (Muhammads Mutter) einen Briefkrieg begann, der sich hauptsächlich darum drehte, dass СКАЧАТЬ